Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
dir vorlesen?«
»Schieß los. Aber sprich langsam und sag mir, wo die Zeilen jeweils enden.«
Die klaren Fragen und Anweisungen in Gurneys ruhiger Stimme hatten die erwartete Wirkung. Mellery klang, als würde er wieder festen Boden unter den Füßen spüren, während er die unheimlichen Verse vorlas:
Ich tu, was ich tat, nicht etwa aus Spaß,
Und auch nicht für Geld. Das ist nicht mein Maß.
Nein, die Waage ist neu zu eichen,
Durch Buße endlich Balance zu erreichen.
Ich tu es für Blut in der makellosen
Roten Farbe gemalter Rosen.
Erkenne es nun, erkenne es jetzt:
Was einst man gesät, bekommt man zuletzt.
Nachdem er es auf einen Block beim Telefon notiert hatte, las Gurney das Ganze noch einmal genau durch, um ein Gespür für den Verfasser zu bekommen. Was für eine eigenartige Persönlichkeit lauerte an der Schnittstelle zwischen rachsüchtigen Absichten und dem Verlangen, sie in einem Gedicht auszudrücken?
Mellery brach das Schweigen. »Was meinst du?«
»Ich meine, es ist an der Zeit, dass du zur Polizei gehst.«
»Das will ich nicht.« Die Aufgeregtheit kehrte zurück. »Die Gründe hab ich dir schon erklärt.«
»Das weiß ich. Aber du hast mich nach meinem Rat gefragt, und das ist er.«
»Verstehe. Aber ich hätte gern eine Alternative.«
»Die beste Alternative wären Leibwächter, falls du dir so was leisten kannst, und zwar rund um die Uhr.«
»Du meinst, ich soll in meinem Haus zwischen zwei Gorillas rumlaufen? Wie um alles in der Welt soll ich das meinen Gästen erklären?«
»Gorillas ist vielleicht ein bisschen übertrieben ausgedrückt.«
»Hör zu, es ist einfach so, dass ich meinen Gästen keine Lügen auftische. Wenn mich einer von ihnen fragt, wer diese Begleiter sind, muss ich zugeben, dass es Bodyguards sind, und das würde natürlich weitere Fragen nach sich ziehen. Das wäre beunruhigend, reines Gift für die Atmosphäre, die ich hier erzeugen möchte. Hast du nicht noch eine andere Idee?«
»Das hängt davon ab. Was willst du erreichen?«
Mellery stieß ein bitteres Lachen aus. »Vielleicht könntest du rausfinden, wer mir nachstellt und was er gegen mich im Schilde führt, und ihn davon abhalten. Meinst du, du kannst das?«
Gurney wollte schon antworten, dass er sich nicht sicher war, da platzte es aus Mellery heraus: »Davey, um Himmels willen, ich hab eine Scheißangst. Ich weiß nicht, was da gespielt wird. Du bist der intelligenteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Und du bist der Einzige, bei dem ich darauf hoffen kann, dass er die Situation nicht noch weiter verschlimmert.«
Genau in diesem Augenblick schlenderte Madeleine mit ihrer Stricktasche durch die Küche. Sie nahm ihren Strohhut und die aktuelle Ausgabe von Mother Earth News von der Anrichte und trat durch die Terrassentür. Auf ihren Lippen blitzte ein Lächeln auf, als wäre es vom blauen Himmel angeknipst worden.
»Wenn ich dir helfen soll, musst du mir auch helfen«, erwiderte Gurney.
»Was soll ich tun?«
»Das hab ich dir schon gesagt.«
»Was? Ach … die Listen...«
»Wenn du damit vorangekommen bist, ruf mich an. Dann sehen wir weiter.«
»Dave?«
»Ja?«
»Danke.«
»Bis jetzt hab ich nichts getan.«
»Doch, du hast mir Hoffnung gemacht. Ach, übrigens. Den heutigen Umschlag hab ich sehr vorsichtig geöffnet. So wie sie es im Fernsehen immer zeigen. Mit Pinzette und Gummihandschuhen. Damit die Fingerabdrücke nicht ruiniert werden, wenn welche drauf sind. Und den Brief habe ich in eine Plastiktüte gelegt.«
7
Das schwarze Loch
Eigentlich war Gurney nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sich auf Mark Mellerys Problem einzulassen. Natürlich faszinierte ihn das Rätselhafte daran und die Herausforderung, es zu ergründen. Woher also sein Unbehagen?
Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er die Leiter aus der Scheune holen und wie versprochen die Äpfel pflücken sollte, doch dieser Gedanke wurde rasch verdrängt von dem an sein nächstes Kunstprojekt für Sonya Reynolds. Zumindest war es an der Zeit, das Foto des berüchtigten Peter Piggert in sein Retuschierprogramm zu laden. Schon länger freute er sich darauf, das Innenleben dieses Oberpfadfinders zu erfassen, der nicht nur seinen Vater und fünfzehn Jahre später seine Mutter ermordet hatte, sondern dies auch aus sexuellen Motiven getan hatte, die fast grausiger schienen als seine Verbrechen.
Gurney ging in den Raum, den er für seine künstlerische Tätigkeit eingerichtet hatte. Die ehemalige Speisekammer des
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