Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
und so lange über die Situation reden, wie er wollte. Kyle war einverstanden, er klang sogar richtig glücklich. Erfüllt von Staunen saß Gurney nach dem Telefonat zehn Minuten lang einfach nur da.
Es warteten noch weitere Anrufe auf ihn. Gleich am Morgen wollte er sich bei Mark Mellerys Witwe melden und ihr mitteilen, dass es endlich vorbei war - dass Gregory Dermott Spinks in Haft war und die Beweise für seine Schuld eindeutig und erdrückend waren. Wahrscheinlich würden auch Sheridan Kline und Rodriguez persönlich mit ihr telefonieren. Trotzdem nahm er sich vor, sie anzurufen - das war er Mark schuldig.
Und dann war da noch Sonya Reynolds. Laut Vereinbarung musste er ihr mindestens noch ein weiteres Verbrecherporträt liefern. Auf einmal kam ihm das alles so unwichtig vor, eine belanglose Zeitverschwendung. Dennoch würde er sie anrufen, um zumindest darüber zu reden, und seinen Verpflichtungen nachzukommen. Aber mehr auch nicht. Sonyas Aufmerksamkeit war angenehm, aufbauend und vielleicht sogar ein bisschen aufregend, aber der Preis dafür war zu hoch und die Gefahr für wesentlichere Dinge viel zu groß.
Wegen des Schnees brauchte er für die zweihundertfünfzig Kilometer von Wycherly nach Walnut Crossing nicht die normalen drei Stunden, sondern fünf. Als Gurney vom County-Highway auf die Straße abbog, die sich über den Berg zum Farmhaus hinaufschlängelte, saß er hinter dem Steuer wie ferngesteuert. Durch das seit einer Stunde einen Spaltbreit geöffnete Fenster wehte kalte Luft herein, die sein Gesicht erfrischte und seine Lunge mit Sauerstoff versorgte. Als er die sanft abfallende Wiese zwischen der Scheune und dem Haus erreichte, fiel ihm auf, dass die Schneeflocken nicht mehr horizontal dahinrasten, sondern bedächtig herabschwebten. Langsam fuhr er die Wiese hinauf und parkte beim Haus in östlicher Richtung, damit die Windschutzscheibe später, wenn sich der Schneesturm verzogen hatte, durch die Wärme des Tages eisfrei blieb. Er lehnte sich zurück und fühlte sich fast zu keiner Bewegung mehr fähig.
Seine Erschöpfung war so groß, dass er mehrere Sekunden brauchte, um zu merken, dass sein Handy klingelte.
»Ja?« Seine Antwort war kaum mehr als ein Keuchen.
»Ist David da?« Die weibliche Stimme kam ihm bekannt vor.
»Hier ist David.«
»Ach, Ihre Stimme war so … seltsam. Hier spricht Laura. Vom Krankenhaus. Sie wollten, dass ich anrufe … wenn was passiert.« Die Pause schien die Hoffnung anzudeuten, dass hinter seinem Wunsch, von ihr zu hören, vielleicht noch andere Gründe als der genannte steckten.
»Stimmt. Danke, dass Sie daran gedacht haben.«
»Gern geschehen.«
»Und - ist was passiert?«
»Mr. Dermott lebt nicht mehr.«
»Könnten Sie das noch mal wiederholen?«
»Gregory Dermott, der Mann, über den Sie Bescheid wissen wollten - er ist vor zehn Minuten gestorben.«
»Todesursache?«
»Steht offiziell noch nicht fest, aber auf den Kernspinaufnahmen, die nach seiner Einlieferung gemacht wurden, sind eine Schädelfraktur und eine starke Gehirnblutung zu erkennen.«
»Verstehe. Bei so einer Verletzung wohl keine Überraschung.« Er glaubte etwas zu empfinden, doch dieses Gefühl war weit weg und hatte keinen Namen.
»Wohl nicht.«
Das Gefühl war schwach, aber beunruhigend, wie ein leiser Schrei bei lautem Wind.
»Nein. Also, vielen Dank, Laura. Sehr freundlich, dass Sie mich angerufen haben.«
»Gerne. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
»Ich glaube nicht«, antwortete er.
»Sie brauchen dringend Schlaf.«
»Ja. Gute Nacht. Und noch mal danke.«
Zuerst schaltete er das Telefon ab, dann die Scheinwerfer. Bleiern vor Müdigkeit sank er zurück in den Sitz. Durch das plötzliche Verschwinden des Scheinwerferlichts
versank alles um ihn in undurchdringlicher Dunkelheit.
Als sich seine Augen langsam daran gewöhnten, nahmen Himmel und Wälder ein tiefes und die schneebedeckte Wiese ein helles Grau an. Über dem östlichen Kamm, wo in einer Stunde die Sonne aufging, erahnte er eine schwache rötliche Aura. Der Schneefall hatte aufgehört. Solide, kalt und still ragte das Haus neben dem Auto auf.
Noch einmal wollte er sich die Ereignisse auf möglichst einfache Weise vor Augen führen. Das Kind im Schlafzimmer mit seiner einsamen Mutter und dem wutschnaubenden, betrunkenen Vater … Schreie, Blut, Hilflosigkeit … der schreckliche lebenslange körperliche und psychische Schaden … der tödliche Rache- und Erlösungswahn. So wurde aus dem kleinen
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