Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
die sie nichts angehen, und vielleicht sogar die Presse verständigt…O Gott, ich stelle mir schon die Schlagzeilen vor: ›Morddrohungen
gegen spirituellen Autor‹, was das für ein Aufsehen erregen würde...« Mellery verstummte und schüttelte den Kopf, als ließe sich das ganze Ausmaß des Schadens, den die Polizei anrichten konnte, überhaupt nicht in Worte fassen.
Gurney schaute ihn verblüfft an.
»Was ist?«, fragte Mellery.
»Deine zwei Gründe, warum du dich nicht an die Polizei wendest, widersprechen sich.«
»Inwiefern?«
»Du bist nicht zur Polizei gegangen, weil du Angst hast, dass sie nichts unternimmt. Und du bist nicht zur Polizei gegangen, weil du Angst hast, dass sie zu viel unternimmt.«
»Na ja … aber beides stimmt. Beidem liegt meine Angst zugrunde, dass die Angelegenheit auf inkompetente Weise behandelt wird. Diese Inkompetenz könnte sich darin äußern, dass die Polizei halbherzig vorgeht oder sich aufführt wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Inkompetente Nachlässigkeit oder inkompetente Aggressivität, verstehst du?«
Gurney hatte das Gefühl, dass sich da gerade jemand den Zeh angestoßen und eine Pirouette daraus gemacht hatte. Er glaubte Mellery nicht. Wenn jemand zwei widersprüchliche Gründe für eine Entscheidung nannte, war das nach seiner Erfahrung ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Betreffende einen dritten - den wirklichen - Grund verheimlichte.
Als hätte er Gurneys Gedanken empfangen, sagte Mellery plötzlich: »Ich will dir ganz ehrlich erzählen, was mir wirklich Sorgen macht. Ich kann nicht erwarten, dass du mir hilfst, wenn ich dich nicht voll einweihe. In meinen siebenundvierzig Jahren habe ich zwei sehr verschiedene
Leben geführt. In den ersten zwei Dritteln meiner irdischen Existenz war ich auf dem falschen Weg - auf dem direkten und schnellen Weg ins Verderben. Es fing schon am College an. Danach wurde es immer schlimmer. Das Trinken, das Chaos. Ich war Drogendealer für einen exklusiven Abnehmerkreis und habe mich mit meinen Kunden angefreundet. Einer war so beeindruckt von mir, dass er mir einen Job an der Wall Street vermittelt hat. Per Telefon schloss ich hirnrissige Aktiengeschäfte mit Leuten ab, denen man in ihrer Gier und Blödheit weismachen konnte, dass eine Verdoppelung ihrer Investition in drei Monaten möglich wäre. Das habe ich gut hingekriegt und viel Geld verdient, und dieses Geld war mein Raketentreibstoff in den vollen Wahnsinn. Ich habe gemacht, worauf ich Lust hatte, und an vieles kann ich mich gar nicht mehr erinnern, weil ich meistens sturzbesoffen war. Zehn Jahre lang habe ich nacheinander für verschiedene gerissene Drecksäcke gearbeitet. Dann starb meine Frau. Ich hatte nämlich ein Jahr nach Studienabschluss geheiratet.«
Mellery griff nach seinem Glas. Er trank mit Bedacht, als wäre die Flüssigkeit eine Idee, die sich in seinem Kopf bildete. Als das Glas halbleer war, stellte er es auf die Stuhllehne und starrte es kurz an, ehe er den Faden seiner Erzählung wiederaufnahm.
»Ihr Tod war ein echter Einschnitt. Er hatte größeren Einfluss auf mich als alle Ereignisse unserer fünfzehnjährigen Ehe zusammen. So ungern ich es zugebe, aber erst durch ihren Tod hatte das Leben meiner Frau überhaupt eine Wirkung auf mich.«
Gurney hatte den Eindruck, dass Mellery dieses kunstvolle Paradox, das zögernd vorgetragen wurde wie ein Augenblickseinfall, schon hundert Mal vom Stapel gelassen hatte. »Wie ist sie gestorben?«
»Die ganze Geschichte steht in meinem ersten Buch, hier also nur die kurze, hässliche Version. Wir haben Urlaub auf der Olympic-Halbinsel in Washington gemacht. Eines Abends bei Sonnenuntergang saßen wir auf dem verlassenen Strand. Erin wollte noch schwimmen. Normalerweise ist sie nur dreißig Meter weit reingegangen und dann parallel zum Ufer hin und her geschwommen, als würde sie Bahnen in einem Becken ziehen. Bewegung und Sport waren ihr sehr wichtig.« Stockend schloss er die Augen.
»War das auch an diesem Abend so?«
»Wie?«
»Du hast gesagt, dass sie es normalerweise so gemacht hat.«
»Ach so. Ja, ich glaube , dass sie es auch an diesem Abend so gemacht hat. Aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, weil ich zu besoffen war. Erin ist ins Wasser gegangen, und ich bin mit meiner Thermosflasche voller Martini auf dem Strand geblieben.« An seinem linken Auge setzte ein Tick ein.
»Erin ist ertrunken. Ihre Leiche trieb zwanzig Meter vom Ufer entfernt im Wasser. Die Leute,
Weitere Kostenlose Bücher