Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Griff der Seitentür legte, schien ihr etwas einzufallen, und sie sprach ihn mit übertriebener Verblüffung an. »Nach dem Buchumschlag zu urteilen, ist dein Studienfreund ein Heiliger, in jeder Hinsicht vollkommen. Ein Guru für richtiges Verhalten. Kaum vorstellbar, warum so einer Rat bei einem Detective der Mordkommission sucht.«
»Bei einem pensionierten Detective der Mordkommission«, korrigierte Gurney.
Aber sie war schon verschwunden, ohne das Knallen der Tür zu dämpfen.
3
Ärger im Paradies
Der nächste Tag war noch herrlicher als der vergangene und hätte sich gut als Oktoberbild in einem Neu-England-Kalender gemacht. Gurney stand um sieben auf, duschte und rasierte sich, zog Jeans und einen leichten Baumwollpulli an und trank seinen Kaffee auf der Bluestoneterrasse vor dem Schlafzimmer im Erdgeschoss. Die Terrasse und die Fenstertüren, durch die man sie erreichte, hatte er auf Madeleines Drängen hin eingebaut.
Von solchen Dingen verstand sie etwas, und sie hatte ein Auge dafür, was möglich und passend war. Das sagte viel über sie aus: über ihren positiven Instinkt, ihre praktische Fantasie, ihren unfehlbaren Geschmack. Wenn er sich allerdings in den Bereichen verhedderte, die zwischen ihnen umstritten waren - dem sumpfigen Dickicht unausgesprochener Erwartungen -, fiel es ihm schwer, sich auf ihre Stärken zu konzentrieren.
Er durfte auf keinen Fall vergessen, Kyle zurückzurufen. Aber wegen des Zeitunterschieds zwischen Walnut Crossing und Seattle musste er damit noch drei Stunden warten. Er ließ sich tiefer in den Stoffstuhl sinken, den warmen Kaffeebecher in beiden Händen.
Schließlich fiel sein Blick auf die schmale Mappe, die er mit dem Kaffee herausgebracht hatte. Er versuchte, sich das Aussehen des Collegefreundes vorzustellen, dem
er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr begegnet war. Das Foto auf dem Buchumschlag, den Madeleine ausgedruckt hatte, hatte sein Gedächtnis aufgefrischt, nicht nur im Hinblick auf das Gesicht, sondern auch auf die Persönlichkeit - bis hin zum Timbre eines irischen Tenors und einem umwerfend charmanten Lächeln.
Als sie zusammen am Rose Hill Campus der Fordham University in der Bronx studierten, war Mark Mellery ein wilder Bursche gewesen, dessen Ausbrüche von Humor und Wahrheitsliebe, Energie und Ehrgeiz von etwas Dunklem gefärbt waren. Er hatte eine Tendenz, sich allzu nahe am Abgrund zu bewegen - eine Art schlingerndes Genie, zugleich unbesonnen und berechnend, immer in Gefahr, in eine Abwärtsspirale zu geraten.
Laut der Biografie auf seiner Website hatte sich die Richtung der Spirale, die ihn zunächst hinuntergezogen hatte, ab dem dreißigsten Lebensjahr durch einen dramatischen spirituellen Wandel umgekehrt.
Nachdem er den Kaffeebecher auf der schmalen Holzlehne des Stuhls abgestellt hatte, schlug Gurney die Mappe in seinem Schoß auf. Er entnahm ihr die ausgedruckte E-Mail, die er vor einer Woche von Mellery erhalten hatte, und ging sie noch einmal Zeile für Zeile durch.
Hallo Dave,
ich hoffe, Du findest es nicht unangemessen, wenn sich ein alter Studienfreund nach so langer Zeit wieder bei Dir meldet. Man weiß ja nie, was eine Stimme aus der Vergangenheit in einem wachruft. Ich habe über unseren Alumni-Verein Kontakt zu unserer gemeinsamen akademischen Geschichte gehalten und war im Lauf der Jahre immer wieder fasziniert von den Neuigkeiten über die Absolventen unseres Jahrgangs. Mehrere Male
habe ich mit Befriedigung von Deinen herausragenden Leistungen und der Anerkennung gehört, die Dir zuteil wurde. (Ein Artikel in unseren Alumni-News nennt Dich den »meistdekorierten Detective des NYPD« - was mich eigentlich nicht besonders überrascht, wenn ich an den Dave Gurney denke, den ich vom College kenne!) Vor ungefähr einem Jahr erfuhr ich dann, dass Du in den Ruhestand gegangen und hierher nach Delaware County gezogen bist. Ich wurde darauf aufmerksam, weil ich selbst in Peony wohne - also nur ein paar Häuser weiter, wie es so schön heißt. Wahrscheinlich hast Du nichts davon gehört, aber ich leite hier eine Art Meditationszentrum mit dem Namen »Institut für spirituelle Erneuerung« - klingt ziemlich hochtrabend, ich weiß, ist aber eigentlich eine ganz praktische Angelegenheit.
Im Lauf der Jahre habe ich mir zwar schon oft gedacht, dass es eine große Freude für mich wäre, Dich wiederzusehen, aber erst jetzt hat eine schwierige Situation den entscheidenden Anstoß dafür gegeben, mich mit Dir in Verbindung zu setzen.
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