Die Hassliste: Roman (German Edition)
haben Angst vor Nachahmern. Die Polizei ist zu deiner Sicherheit da, Valerie.«
Mom hielt in der Kurzparkzone an. Sie nahm die Hände vom Steuer und blickte mich an. Ich versuchte darüber hinwegzusehen, dass ihre Mundwinkel zuckten und sie gedankenverloren an ihrem Daumennagel herumfingerte, und setzte extra für sie ein wackliges Lächeln auf.
»Bis nachher dann«, sagte sie. »Um zehn vor drei bin ich da und warte auf dich.«
»Geht in Ordnung«, sagte ich mit Zwergenstimme. Ich zog am Türgriff. Einen Moment lang schien ich zu schwach zu sein, der Griff rührte sich nicht. Aber dann tat er es doch, was mich enttäuschte, denn das hieß, dass ich aussteigen musste.
»Vielleicht legst du morgen einen Hauch Lippenstift auf oder so«, sagte Mom, als ich mich aus dem Auto schob. Was für ein seltsamer Satz, dachte ich, presste aber aus alter Gewohnheit trotzdem meine Lippen aufeinander.Ich schloss die Autotür und winkte vage in Moms Richtung. Sie winkte zurück und hielt mich mit den Augen fest, bis der Fahrer des Wagens hinter ihr hupte und sie losfahren musste.
Einen Augenblick lang blieb ich wie festgefroren auf dem Gehweg stehen. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es fertigbringen würde, das Gebäude zu betreten. Mein Oberschenkel schmerzte und in meinem Kopf summte es. Alle andern um mich herum wirkten total normal. Ein paar Schüler aus den unteren Klassen liefen an mir vorbei und redeten aufgeregt über das große Fest, das es wie jedes Jahr zum Schulanfang geben würde. Eines der Mädchen kicherte, als ihr Freund seinen Finger in ihre Seite bohrte. Lehrer standen auf dem Gehweg herum und scheuchten die Schüler zum Unterricht. Alles war genauso wie beim letzten Mal, als ich hier gewesen war. Seltsam.
Ich setzte mich in Bewegung, blieb jedoch abrupt stehen, als hinter mir eine Stimme erklang.
»Das darf doch nicht wahr sein!« Es war, als hätte irgendwer der Welt den Ton abgedreht. Ich drehte mich um und guckte. Stacey und Duce standen Hand in Hand da, Stacey mit offenem Mund, der von Duce dagegen war zu einem säuberlichen kleinen Knoten zusammengezogen. »Val?«, fragte Stacey – nicht so, als sei sie unsicher, ob ich es wirklich war, sondern eher so, als könne sie nicht glauben, dass ich wirklich
hier
war.
»Hallo«, sagte ich.
David schob sich an Stacey vorbei und umarmte mich. Doch es wirkte steif und er ließ mich gleich wieder los. Dann trat er zurück in die Gruppe und senkte den Blick Richtung Boden.
»Ich hab nicht gewusst, dass du heute wiederkommst«, sagte Stacey. Für den Bruchteil einer Sekunde schossen ihre Augen zur Seite und sie versuchte, im Gesicht von Duce zu lesen. Gleich darauf sah ich, wie sie zu einer exakten Kopie von ihm wurde und ein schiefes, arrogantes Grinsen aufsetzte, das gar nicht zu ihrem Gesicht passte.
Ich zuckte mit den Achseln. Stacey und ich waren schon seit ewigen Zeiten Freundinnen. Wir hatten dieselbe Kleidergröße, mochten die gleichen Filme, hatten lange Zeit ähnliche Klamotten getragen und erzählten die gleichen Lügen. In den Sommerferien hatte es immer wieder Zeiten gegeben, in denen wir unzertrennlich gewesen waren.
Doch es gab einen großen Unterschied zwischen Stacey und mir: Stacey hatte keine Feinde – wahrscheinlich deshalb, weil sie immer darauf achtete, es allen recht zu machen. Sie war absolut anpassungsbereit: Man machte ihr einfach klar, wer sie sein sollte, und dann wurde sie im Handumdrehen haargenau so. Sie gehörte zwar nicht zu denen, die an der Schule immer im Mittelpunkt standen, aber auch nicht zu den Außenseitern und Losern wie ich. Sie hatte es immer hingekriegt, auf der richtigen Seite der Trennlinie zu bleiben und kein bisschen aufzufallen.
Nach dem »Vorfall«, wie mein Vater sich ausdrückte, hatte mich Stacey zweimal besucht. Einmal im Krankenhaus, zu der Zeit, als ich mit überhaupt niemandem gesprochen habe. Und dann noch mal zu Hause, nachdem ich entlassen worden war. Aber da hatte ich Frankie gebeten, ihr vorzumachen, ich würde schlafen. Danach hat sie nie mehr versucht, Kontakt aufzunehmen, und ich habees auch nicht getan. Ein Teil von mir hatte wohl das Gefühl, ich hätte es nicht verdient, Freunde zu haben. Und sie hätte eine bessere Freundin als mich verdient.
Eigentlich tat sie mir leid. Ihrem Gesicht sah ich an, was in ihr vorging: Sie wünschte sich ganz dringend, wieder da weitermachen zu können, wo wir vor dem Amoklauf gewesen waren, und fühlte sich schuldig, weil sie mich auf Abstand hielt. Aber
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