Die Hassliste: Roman (German Edition)
nämlich verdammt weh. Und eins wusste ich genau: Ich hatte die Nase gestrichen voll von allem, was wehtat.
Mom beugte sich von ihrem Autositz zu mir herüber und tätschelte mein Knie. »Also, wenn du’s ein Stück weit durch den Tag geschafft hast und mich brauchst, ruf einfach an. Ich bin dann gleich da, okay?«
Ich gab ihr keine Antwort. Der Knoten in meinem Hals war einfach zu heftig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich gleich in denselben Korridoren herumlaufen würde wie die Leute, die ich so gut kannte, die mir inzwischen aber total fremd waren. Leute wie Allen Moon, derdirekt in die Kamera geguckt und gesagt hatte: »Valerie sollte lebenslänglich kriegen für das, was sie gemacht hat«, oder Carmen Chiarro, die von einer Zeitschrift zitiert worden war mit dem Satz: »Ich hab keine Ahnung, warum mein Name auf dieser Liste war. Vor dem Amoklauf kannte ich Nick und Valerie nicht mal.«
Dass sie Nick nicht gekannt haben wollte, war immerhin einigermaßen plausibel. Als er im ersten Highschooljahr hierherzog, war er ein stiller, dünner Junge mit miesen Klamotten und fettigen Haaren gewesen. Aber Carmen und ich waren zusammen in die Grundschule gegangen. Es war eine dicke, fette Lüge, wenn sie behauptete, mich nicht zu kennen. Außerdem hing sie immer mit Chris Summers rum, dem selbst ernannten Football-Superstar, und der konnte Nick einfach nicht ausstehen und nutzte jede Gelegenheit, um ihn fertigzumachen. Alle, die näher mit Chris zu tun hatten, fanden es zum Totlachen, wenn er Nick piesackte. Darum war auch ihre Behauptung, Nick nicht gekannt zu haben, alles andere als glaubwürdig. Ob Allen und Carmen heute da sein würden? Ob sie wohl nach mir Ausschau hielten? Hofften sie, ich käme nicht?
»Und du hast ja auch die Nummer von Dr. Hieler«, sagte Mom und tätschelte weiter mein Knie.
Ich nickte.
Wir bogen in die Oak Street ein. Ich kannte den Weg zur Schule im Schlaf. Rechts in die Oak Street. Links auf die Foundling Avenue. Dann links in die Starling. Und dann wieder rechts auf den Parkplatz. Und schon steht man direkt vor unserer Schule, sie ist nicht zu verfehlen.
An diesem Morgen allerdings kam mir alles anders vor.Nie mehr würde diese Mischung aus Aufregung und Schüchternheit zurückkehren, die ich an meinem ersten Schultag hier empfunden hatte. Nie mehr würde ich die Schule mit durchgeknallten Liebesgeschichten, mit Begeisterung und Lachen in Verbindung bringen oder mit etwas, das mir gut gelungen war. Mir würde später nichts von dem einfallen, woran andere Leute im Zusammenhang mit ihrer Highschoolzeit denken. Das war noch etwas, das Nick mir und uns allen an jenem Tag genommen hatte. Er hatte uns nicht nur unsere Unschuld und das Gefühl von Geborgenheit genommen, sondern auch unsere Erinnerungen.
»Du schaffst das«, sagte Mom. Ich wandte den Kopf und blickte zum Fenster hinaus. Delaney Peters lief gerade Arm in Arm mit Sam Hall am Footballfeld entlang. Ich wusste nicht, dass die beiden inzwischen ein Paar waren, und auf einmal bekam ich das Gefühl, ein halbes Leben verpasst zu haben und nicht nur einen Sommer. Normalerweise hätte ich den Sommer am See oder auf der Bowlingbahn verbracht, ich hätte an Tankstellen und in Imbissläden rumgehangen, ich hätte den ganzen Klatsch und Tratsch mitgekriegt und genau gewusst, wer mit wem geht und so weiter. Stattdessen hatte ich mich in meinem Zimmer verkrochen und mir war schon schlecht vor Angst geworden bei der Vorstellung, vielleicht mit meiner Mutter zum Einkaufen zu gehen. »Dr. Hieler ist davon überzeugt, dass du den Tag mit Bravour bestehst.«
»Weiß ich«, sagte ich. Ich lehnte mich vor und mein Magen zog sich zusammen. Auf der Tribüne saßen Stacey und Duce, so wie immer, und neben ihnen hockten Mason,David, Liz und Rebecca. Normalerweise säße ich bei ihnen. Zusammen mit Nick. Wir würden unsere Stundenpläne vergleichen, über die Lehrer lästern, die wir bekämen, und über die wilden Partys quatschen, auf denen wir zusammen gewesen waren. Meine Hände schwitzten. Stacey lachte gerade über eine Bemerkung von Duce und ich fühlte mich plötzlich noch tausendmal mehr wie eine Außenseiterin als vorher.
Als wir in die Auffahrt einbogen, fielen mir sofort die beiden Streifenwagen ins Auge, die direkt neben der Schule parkten. Ich muss laut geschluckt oder das Gesicht verzogen haben, denn Mom sagte sofort: »Das ist jetzt Standard an den Schulen. Eine Vorsichtsmaßnahme. Weil … na ja, du weißt schon. Die
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