Die Hassliste: Roman (German Edition)
zusammengebrochen war, hatte jemand eine Pinnwand aufgestellt. Aus Tonpapier ausgeschnittene Buchstaben bildeten den Satz WIR ERINNERN UNS, darunter hingen Zettel, Karten, Fotos, Blumen. Ein paar Mädchen – ich konnte sie von hier aus nicht erkennen – befestigten gerade einen Zettel und ein Foto an der Pinnwand.
»Wenn es nötig gewesen wäre, hätten wir die Benutzung der Cafeteria außerhalb der Essenszeiten verboten«, erklärte Mrs Tate, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Schon allein aus Sicherheitsgründen. Aber wie es aussieht, hält sich sowieso niemand mehr freiwillig hier auf. Die Cafeteria wird nur noch in der Mittagspause benutzt.«
Wir durchquerten den großen Raum. Ich versuchte auszublenden, wie meine Füße auf dem Boden in klebrigem Blut herumgerutscht waren. Ich bemühte mich, nur auf das Geräusch von Mrs Tates Schuhen zu achten, die laut und hart auf die Fliesen knallten, und hätte mich zu gern an all die Dinge erinnert, die Dr. Hieler mir in langen Sitzungen beigebracht hatte – Bauchatmung, Fokussieren und so weiter. Aber in diesem Moment war alles weg.
Wir gingen am andern Ende der Cafeteria zu den Verwaltungsbüros. Genau genommen war das hier die Vorderseite der Schule. Auch hier durchsuchten Polizeibeamte Rucksäcke und fuhren mit Metalldetektoren über die Kleidung der Schüler.
»Durch diese ganzen Kontrollen kann der Unterricht morgens natürlich erst später losgehen«, seufzte Mrs Tate. »Andererseits fühlen wir uns so alle sicherer.«
Sie eilte mit mir an den Polizisten vorbei zu den Büroräumen. Die Sekretärinnen blickten uns mit einem höflichen Lächeln im Gesicht an, sagten aber keinen Ton. Ich starrte die meiste Zeit über auf den Boden und folgte Mrs Tate in ihr Büro, in der Hoffnung, ich könnte lange dort bleiben.
Mrs Tates Büro war das genaue Gegenteil von Dr. Hielers. Bei Dr. Hieler war es aufgeräumt, unendlich viele Fachbücher standen ordentlich aufgereiht in den Regalen. Bei Mrs Tate dagegen türmten sich Papierberge, Broschüren und Lernmaterialien wild aufeinander. Auf praktisch jeder freien Fläche lagen Bücher und überall standen Fotos von Mrs Tates Kindern und ihren Hunden herum.
Die meisten Schüler, die zu Mrs Tate kamen, wollten sich über einen Lehrer beschweren oder sich College-Broschüren anschauen, mehr passierte hier in der Regel nicht. Falls Mrs Tate in ihrer Ausbildung darauf spekuliert hatte, dass sie es später mit Heerscharen von verstörten Schülern zu tun haben würde, die alle ihre Hilfe bräuchten, war sie jetzt garantiert enttäuscht. Wobei natürlich die Frage war, ob es überhaupt jemanden geben konnte, der enttäuscht darüber war, dass es zu wenig verstörte Leute in seinem Leben gab.
Sie zeigte auf einen Stuhl mit zerrissenem Kunstlederbezug, auf den ich mich setzen sollte, schlängelte sich an einem kleinen Aktenschrank vorbei und nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz, wobei sie fast hinter Papierstapeln verschwand. Sie beugte sich vor und faltete ihre Hände auf einer fleckigen Papiertüte, in der irgendwann mal Essen gewesen sein musste.
»Ich hab heute Morgen nach dir Ausschau gehalten«,erklärte sie. »Ich finde es gut, dass du wieder in unsere Schule zurückkommst. Ziemlich mutig.«
»Ich versuch’s mal«, murmelte ich und rieb abwesend meinen Oberschenkel. »Ich weiß noch nicht, ob ich bleibe.«
Dreiundachtzig Tage und der Countdown läuft
, wiederholte ich innerlich.
»Na ja, hoffentlich tust du das. Du bist eine gute Schülerin«, sagte sie. »Ah!«, rief sie plötzlich aus und reckte einen Finger. Sie beugte sich zur Seite und zog mit einem Ruck ein Schubfach aus dem Aktenschrank neben ihrem Schreibtisch. Das gerahmte Foto einer schwarzweißen Katze mit hochgereckten Tatzen schwankte dabei bedenklich und ich überlegte mir, wie oft am Tag Mrs Tate wohl das Foto wieder hinstellen musste, nachdem es umgefallen war. Sie zog eine beigebraune Mappe aus der Schublade und legte sie geöffnet vor sich auf den Schreibtisch, ohne das Schubfach hinterher wieder ganz zuzumachen. »Da fällt mir doch gleich wieder das mit dem College ein. Genau, du hast dir überlegt …«, sie wühlte hektisch in den Unterlagen, »… du wolltest auf die Kansas State, wenn ich mich richtig erinnere.« Sie blätterte weiter, fuhr mit dem Zeigefinger über ein Blatt Papier und sagte: »Ja, genau, hier steht’s ja. Kansas State oder Northwest Missouri State.« Sie klappte die Mappe wieder zu und lächelte. »Ich
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