Die Hassliste: Roman (German Edition)
Rudel Wölfe, übers Essen gebeugt, mit lang gezogenen Schnauzen und gefletschten Zähnen oder einem höhnischen Grinsen im Gesicht. Nur Jessica nicht. Ihr Wolfsgesicht erwiderte vorsichtig meinen Blick. Ich war selbst überrascht, als ich hinuntersah auf meine Zeichnung und merkte, dass ihr Wolfsgesicht eher an das von einem Hundewelpen erinnerte.
2. Mai 2008
7:41 Uhr
»Hast du denn unsern Plan vergessen?«
Während Christy Bruter direkt vor mir
zu Boden ging und um mich herum ein Chaos von Schreien, Gerenne und allgemeiner Panik losbrach, war ich einen bizarren Moment lang fest davon überzeugt, dass das alles nur in meiner Einbildung passierte. Dass ich noch zu Hause im Bett läge und alles nur träumte. Gleich würde mein Handy klingeln und Nick wäre dran, um mir zu erzählen, dass er mit Jeremy zum Blue Lake fahren und nicht in die Schule kommen würde.
Aber dann rannte Nick weg, Willa kniete sich neben Christy und drehte sie auf den Rücken. Da war so viel Blut. Das Blut war überall. Christy atmete noch, aber es klang total übel, als müsste sie durch Pudding atmen. Willa hielt Christys Hand und redete auf sie ein. Es würde alles gut werden, diesen einen Satz wiederholte sie immer wieder.
Ich kniete mich neben Willa und nahm Christys andere Hand.
»Hast du ein Handy?«, rief ich Willa zu. Sie schüttelteden Kopf. Meins war in meinem Rucksack, aber in dem ganzen Durcheinander konnte ich ihn nirgends entdecken. Später sah ich auf den Überwachungsbändern, dass er direkt hinter mir gelegen hatte, mitten in einer Blutlache auf dem Boden. Beim Ansehen dieser Aufnahmen verstand ich kaum, wie es sein konnte, dass ich ihn eindeutig angeschaut, aber nicht wiedererkannt hatte. »Blutlache« und »Rucksack« gingen für mich anscheinend nicht zusammen.
»Ich hab mein Handy«, sagte Rachel Tarvin. Sie stand unmittelbar hinter Willa und wirkte unglaublich ruhig, als wäre ein Amoklauf für sie etwas ganz Alltägliches.
Rachel zog ihr Handy aus der Jeanstasche und klappte es auf. Sie war gerade dabei, eine Nummer einzutippen, als wieder ein lauter Knall ertönte und gleich darauf noch mehr Schreie. Dann knallte es noch zweimal. Drei weitere Schüsse folgten.
Etliche Leute drängten auf uns zu. Ich bekam Angst, sie könnten mich niedertrampeln, und sprang auf.
»Geh nicht weg«, weinte Willa. »Sie stirbt. Du darfst nicht gehen. Ich brauch dich. Bitte!«
Aber die Menge riss mich fort, und bevor ich es kapierte, rutschte ich auf Christys Blut in ein Knäuel von Schülern hinein, die alle versuchten, irgendwie aus der Cafeteria zu entkommen. Jemand rammte mir seinen Ellbogen gegen die Lippe. Ich schmeckte Blut. Jemand trat mir auf den Fuß, richtig fest. Aber ich reckte den Kopf so sehr, dass ich das kaum merkte. Christy schien auf einmal unglaublich weit weg zu sein. Und außerdem bemerkte ich jetzt etwas, das noch schlimmer war.
Drüben an dem Tisch, wo die Schülervertretung ihreDonuts verkaufte, war alles voll Blut. Ich sah zwei leblose Körper unter dem Tisch liegen. Ein Stück weiter schubste Nick Stühle aus dem Weg und warf Tische um. Dann und wann kniete er sich hin und spähte unter einen Tisch, zog jemanden darunter hervor, redete mit ihm und wedelte ihm dabei mit der Waffe dicht vorm Gesicht herum. Gleich darauf knallte es wieder und es ertönten neue Schreie.
Langsam begann ich zu begreifen. Nick. Die Knarre. Das Knallen, immer wieder dieses Knallen. Die Schreie. Mein Gehirn arbeitete immer noch langsam, aber nach und nach wurde es schneller. Das alles ergab für mich keinen Sinn. Oder vielleicht doch. Wir hatten über das hier geredet, könnte man sagen.
»Hast du von dem Amoklauf gehört, in dieser Schule in Wyoming oder so?«, hatte Nick mich eines Abends am Telefon gefragt, erst vor ein paar Wochen. Ich hatte auf dem Bett gesessen und mir die Zehennägel lackiert, während ich mich über die Freisprechanlage mit Nick unterhielt. Eins von einer Million Gesprächen, die wir geführt hatten, kein bisschen bedeutender oder unbedeutender als irgendein anderes.
»Ja«, sagte ich und wischte mir einen Rest Nagellack vom Zeh. »Verrückt, was?«
»Hast du diesen Blödsinn mitgekriegt, den die im Fernsehen über die Täter verzapfen? Dass es angeblich überhaupt keine Vorzeichen gegeben hat?«
»Ja, denk schon. Ich hab’s nicht so genau verfolgt.«
»Die betonen andauernd, diese Typen wären total beliebt gewesen, jeder hätte sie gemocht, sie wären keine Einzelgänger
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