Die Hassliste: Roman (German Edition)
Angerson eingeredet hatte, wir würden morgens vor der Schule auf dem Parkplatz Joints rauchen, was komplett gelogen war, uns aber ein paar Tage Unterrichtsausschluss eingehandelt hatte. Jessica machte sich nicht mal die Mühe, hinter unserm Rücken schlecht über uns zu reden. Sie sagte es uns direkt ins Gesicht. Etliche Male war sie auf die Hassliste gekommen. Ihr Name war unterstrichen. Mit Ausrufezeichen dahinter.
Sie war es, die eine große, eingedellte Narbe an ihrem Oberschenkel hätte haben müssen. Sie war es, die hätte sterben sollen. Sie war es, deren Leben ich gerettet hatte. Vor diesem Tag im Mai hatte ich Jessica gehasst. Jetzt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich für sie empfand.
Als ich Jessica Campbell das letzte Mal gesehen hatte,hatte sie sich vor Nick zusammengekauert und sich die Hände vors Gesicht gehalten. Sie hatte geschrien. So irrsinnig geschrien, dass es ihre Kehle zu zerreißen schien. Sie war verrückt gewesen vor Angst. Allerdings war das in diesem Moment so gut wie jeder in der Cafeteria. Ich weiß noch, dass ein Bein ihrer Jeans mit Blut verschmiert war und dass sie Essensreste im Haar hatte. Seitdem habe ich öfter über diese Ironie des Schicksals nachgedacht, dass die erbärmlichste Person, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, ausgerechnet Jessica Campbell war. Aber daran freuen konnte ich mich nicht.
»Was?«, krächzte ich jetzt.
Sie deutete in Richtung Cafeteria. »Du kannst an meinem Tisch essen, wenn du willst«, sagte sie. Da war immer noch kein Lächeln, kein Stirnrunzeln, keine Gefühlsregung in ihrem Gesicht. Jessicas Angebot kam mir wie eine Falle vor. Es war einfach unmöglich, dass sie es ernst meinte. Sie lockte mich an, um mich wegzustoßen, dieses Spiel kannte ich.
Zögernd schüttelte ich den Kopf. »Ist schon in Ordnung so. Trotzdem danke.«
Sie starrte mich noch eine ganze Weile lang mit geneigtem Kopf an und kaute dabei auf den Innenseiten ihrer Wangen. Komisch, ich konnte mich nicht erinnern, dass ich das vorher schon mal bei ihr beobachtet hatte. Sie wirkte irgendwie … verletzlich. Ernsthaft. Vielleicht auch so, als hätte sie ein bisschen Angst. Diesen Gesichtsausdruck war ich von ihr nicht gewöhnt.
»Bist du sicher? Da sitzen sowieso nur Sarah und ich, und Sarah ist komplett abgetaucht in ihr Psychologie-Projekt. Die merkt’s gar nicht, dass du da bist.«
Ich schaute an ihr vorbei zu dem Tisch, an dem sie immer saß. Stimmt, da war Sarah, total vertieft in ihre Aufzeichnungen, aber es saßen noch jede Menge anderer Leute dort. Alle gehörten zu Jessicas Clique. Dass die meine Anwesenheit nicht bemerken würden, bezweifelte ich. Ich war nicht blöd. Und ich war auch nicht völlig am Ende.
»Nein, echt. Das ist nett, aber ich bleibe lieber hier.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Aber du kannst jederzeit rüberkommen, wenn du’s dir anders überlegst.«
Ich nickte. »Okay, merk ich mir.«
Sie hatte sich schon ein paar Schritte entfernt, blieb dann aber stehen und drehte sich noch mal zu mir um. »Kann ich dich was fragen?«, sagte sie.
»Meinetwegen.«
»Viele hier rätseln, warum du wohl zurückgekommen bist.«
Aha, darum ging es. Jetzt kommt’s gleich, dachte ich, jetzt fängt sie an, mich zu beschimpfen, sagt mir, dass mich keiner hier will, macht sich über mich lustig. Ich merkte, wie eine altbekannte Mauer in mir zu wachsen begann.
»Weil das eben meine Schule ist«, sagte ich, was allerdings so klang, als wollte ich mich rechtfertigen. »Warum sollte ich gehen? Die Schule hat gesagt, ich könnte wiederkommen.«
Sie kaute weiter auf der Innenseite ihrer Wange, dann sagte sie: »Das stimmt. Schließlich hast du keinen erschossen.«
Sie verschwand wieder in der Cafeteria und mir kamein Gedanke, der mich bis ins Mark erschütterte. Sie machte sich nicht über mich lustig. Sie meinte ernst, was sie gesagt hatte. Und ich hatte es mir nicht nur eingebildet: Jessica Campbell sah wirklich nicht so aus wie sonst. Sie wirkte verändert.
Ich schnappte mein Tablett und warf das Essen in den Müll.
Dann hockte ich mich wieder auf den Boden, und zwar so, dass ich die Cafeteria genau im Blick hatte.
Schau dir einfach an, was da ist, Valerie
, sagte die Stimme von Dr. Hieler in meinem Kopf. Ich griff in meinen Rucksack und holte mein Notizbuch und einen Bleistift raus. Ich beobachtete die Leute da drinnen genau. Ich sah ihnen zu, wie sie genau das taten, was sie immer taten, und zeichnete sie dabei – ein
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