Die Heilerin des Sultans
etwas
Berechnendes trat in ihren Blick. »Es würde zudem helfen,
wenn ich mit Euch das Ritual der Vereinigung vollziehen würde.«
Otto erstickte um ein Haar an seinem eigenen Speichel. Meinte sie
das, was er dachte? Er hustete heftig. »Nur wenn auch Ihr Euch
meinem Herrn durch mich hingebt, wird seine ganze Macht in mich
fahren, und er wird Euch selbst die geheimsten Wünsche
erfüllen.« Konnte er seinen Ohren trauen? Sollte sich das
Rad der Fortuna endlich wieder in Bewegung gesetzt haben? Er benetzte
die trockenen Lippen. Hatte er in Helwig tatsächlich das
Instrument für seine Rache an Lutz Metzler gefunden? Die Wut
darüber, dass er sich um Ernte, Vieh und die Instandhaltung der
Gebäude kümmern musste, anstatt Vergeltung zu üben,
hatte ihn in den vergangenen Wochen beinahe aufgefressen! Seine Hand
zitterte, als er sich damit den plötzlich aus den Poren
tretenden, kalten Schweiß von der Stirn wischte. »Sag
mir, was du brauchst, und ich werde einen der Knechte nach Ulm
schicken«, sagte er schließlich und schrak zusammen, als
sie ihm leicht die Linke auf den Arm legte. »Ihr werdet mich
bei Euch aufnehmen müssen«, erklärte sie mit leiser
Stimme und suchte sein Gesicht mit den Augen nach Zeichen des
Zweifels ab. Als er nicht widersprach, fuhr sie fort: »Ich
benötige etwas aus der unmittelbaren Umgebung desjenigen, den
der Zauber treffen soll. Je persönlicher der Gegenstand ist,
desto stärker die Wirkung.« Otto nickte und winkte einen
der Helfer aus dem Dorf herbei. »Sag Walko, dass ich ihn
sprechen will.« Kaum war der Junge im Stall verschwunden,
wandte er sich zurück an Helwig und fragte: »Was nützt
dir sonst noch?«
Kapitel 55
Bursa,
Spätherbst 1400
»Alles,
was ich von euch erwarte, ist, dass ihr euren Geist öffnet und
in Betracht zieht, dass mein Glaube genauso richtig ist wie der
eure.« Falk presste die Lippen aufeinander, um sich die bissige
Bemerkung zu verkneifen, die ihm auf der Zunge brannte. Der dürre
Eunuch Ünsal schob die Ärmel seines viel zu weiten Gewandes
nach oben und ließ den Blick in die Runde schweifen. »Abraham,
Adam, Eva, Moses, Jesus, Maria, der Erzengel Gabriel. Seht ihr denn
nicht, dass es die gleichen Geschichten sind, wie sie auch die Bibel
erzählt?« Falks Gesicht verhärtete sich, als Ünsal
ihn direkt anblickte. »Ich kann mir gut vorstellen, was man
euch über die Lehre des Propheten erzählt hat«, fuhr
der Lehrer fort. »In meiner Heimatstadt Thessaloniki gab es
einen Priester, der unter Kindern und auch Erwachsenen verbreitete,
die Osmanen seien Teufelsanbeter.« Seine braun-grünen
Augen funkelten belustigt, als einige der Knaben beunruhigte Blicke
tauschten. »Ich war lange genauso verblendet wie ihr und habe
auf diese Lügen gehört.« Er hob einen knochigen
Zeigefinger. »Aber warum sagt die 112. Sure dann: ‚Sprich:
Gott ist einer. Er ist der Ewige. Er ist nicht gezeugt und Er hat
nicht gezeugt. Ihm gleicht keiner.’?« Der Junge vor Falk
begann, nervös auf seiner dünnen Sitzmatte hin und her zu
rutschen. »Kein Gläubiger leugnet, dass Jesus Weisheit und
Wissen, Barmherzigkeit und Reinheit in sich vereint hat.« Ünsal
breitete die Hände aus. »Aber ein barmherziger Gott hätte
ihn niemals für Sünden büßen lassen, die er
nicht auf sich geladen hat. Genauso wenig wie Allah alle
Kinder Adams für dessen Verfehlung büßen lässt.
In seinen Augen ist jeder Mensch von Natur aus gut. Es sind erst
schlechte Einflüsse, unter denen er sich ändern kann.
Darüber solltet ihr nachdenken.« Falk unterdrückte
ein Schnauben und setzte eine grimmige Miene auf, um vor Ünsal
zu verbergen, dass die Geschichten, die dieser vorgelesen hatte, ihn
erschütterten. Sicherlich war es gelogen, dass die Ungläubigen
die Jungfrau Maria ebenso verehrten wie die Christen! Auch wenn er
inzwischen sicher war, dass Gott ihn aufgegeben hatte, würde er
nicht in diese mit Honig bestrichene Falle gehen und den lästerlichen
Worten Glauben schenken.
Als
könne Ünsal seine Gedanken lesen, setzte dieser hinzu:
» Mein Gott ist ein Barmherziger, kein Strafender. Mein Gott ist stark genug, um den
Teufel zu beherrschen. Dieser hat lediglich eine Frist bis zum
Jüngsten Tag, um die Menschen zu versuchen. Er ist keineswegs
der Widersacher des Herrn, sondern sein Werkzeug, um den Glauben zu
prüfen. Iblis ist
ganz gewiss nicht allmächtig.« Falk konnte nicht länger
den Mund halten. »Wie erklärst du dir dann all das Böse
auf der Welt?«, platzte es
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