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Die Heilerin - Roman

Titel: Die Heilerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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treffen, den ich leichter erreichen konnte als die Gärten. Zweimal hintereinander würde der Geburtstagstrick bestimmt nicht funktionieren.
    Ein vorübergehender Baseeri rempelte mich an, und der Schmerz in meinen Rippen erwachte in voller Schärfe. Heute würde ich keinem Ältesten davonlaufen können.
    Also konnte ich entweder das Risiko eingehen, zur Gilde zu gehen, oder mich verstecken und darauf hoffen, dass Tali mich suchte. Beide Vorstellungen stanken wie Bilgewasser.
    Gelächter aus dem Seitenhof des Gildenhauses erregte meine Aufmerksamkeit. Mündel! Sie spielten in dem kleinen Hof gegenüber der Bucht, und einige Jungs schlugen einen Ball mit Stöcken herum. Mädchen hielten sich in dicht gedrängten Grüppchen in der Nähe der Küste auf und redeten. In einer Gruppe in der Mitte entdeckte ich Enzie.
    Ich wartete, bis die Menge wieder dichter wurde, und verschmolz mit ihr, bahnte mir hinter einem Mann mit einem verkrüppelten Arm einen Weg zum Gildenhaus. Ein gusseiserner Zaun umgab den Hof; er war zu hoch, als dass rebellische Mündel hätten darüberklettern und auf Wanderschaft gehen können, doch zwischen den Gitterstangen war Platz genug, sich zu unterhalten.
    »Enzie!« Ich winkte, hielt aber zugleich Ausschau nach Mentoren und Seidenmännern. Viermal musste ich winken, bis es mir gelungen war, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sah mich und erstarrte wie ein verschrecktes Reh. Dann sah sie sich einige Male nervös um, ehe sie schließlich herbeieilte.
    »Nya!« Noch immer sah sie sich ständig nach den Türen um, die in das Innere des Gildenhauses führten, baute sich dabei aber zwischen mir und dem Gebäude auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Mit ihren pludrigen Ärmeln gab sie einen ausreichenden Sichtschutz ab, hinter dem ich mich verstecken konnte.
    »Kannst du Tali holen? Bitte.«
    Wieder sah sie sich zur Tür um, und in ihren Augen stand deutlich mehr Furcht als die normale Mündel-Mentoren-Wachsamkeit. »Jetzt gleich?«
    »Es tut mir leid, aber es ist wirklich wichtig.«
    Einen Moment geschah nichts, dann nickte sie knapp. »Gut. Pass auf, dass dich keiner sieht. Die Mentoren sind heute ziemlich anhänglich. Aus irgendeinem Grund sind sie heute ständig hinter uns her, schlimmer als Moskitos.«
    Noch mehr verschwundene Lehrlinge ? Sie flitzte davon, ehe ich fragen konnte. Ich entfernte mich von dem Zaun und aus der Sichtweite jeglicher Mentoren, die plötzlich herauskommen und nach den Mündeln sehen könnten. Trotzdem war ich immer noch aus einem Dutzend oder mehr Fenstern zu sehen. Ich hoffte, sie schauten nicht allzu häufig hinaus.
    Eine Weile behielt ich Türen und Fenster des Gildenhauses im Auge. Aber es gab einfach zu viele, um sie alle im Blick zu haben. Und da waren noch die Türme, die alles überragten. Tali hatte oft von den Spitztürmen an den vier Ecken geschwärmt und mir sogar ein Bild von dem komplizierten Blattmuster in dem Gestein am oberen Ende der Stützpfeiler gemalt. Mama hatte die Kuppel geliebt, die Art, wie sie scheinbar über dem Gebäude schwebte. Sie hatte gesagt, die großen, breiten Fenster unter der Kuppel würden diese Illusion bewirken. Papa hatte die Bögen gemocht, und davon gab es massenweise: Bögen über den Fenstern, den Türen, den Korridoren. Es sah aus, als strecke sich das ganze Gildenhaus empor, um die Sonne einzufangen.
    Sosehr ich mich auch dagegen sträubte, ging mein Blick doch immer wieder zu dem Flügel, in dem sich die Räumlichkeiten des Erhabenen befanden. Sein Amtszimmer hatte den besten Ausblick auf die Stadt, den See und die Berge an der Küste. Manchmal, wenn Mama zu viel zu tun gehabt hatte, hatte ich in diesem Raum auf dem Boden gehockt, das Gesicht an das Glas gedrückt, während Großmama an ihrem großen Schreibtisch gearbeitet hatte. Die Leute hatten keine Angst gehabt, als sie die Erhabene gewesen war.
    »Nya!« Enzie kam auf mich zugerannt, und ihre Miene verriet mir, dass sie keine guten Neuigkeiten für mich hatte.
    Ich humpelte zurück zum Zaun. »Hast du sie gefunden?«
    »Nein. Niemand weiß, wo sie ist.«
    Die Fischfrikadellen wurden in meinem Bauch zu Stein. »Sie war nicht auf Visite? Oder in ihrem Zimmer ?«
    »Nein.« Mit zitternden Lippen streckte Enzie die Hand durch den Zaun und griff nach meiner Hand. »Und ich konnte auch keine ihrer Freundinnen finden. Ich habe ein paar Heiler von höherem Rang gefragt, ob sie mir sagen können, was mit Tali ist, und sie haben gesagt, es wäre alles in Ordnung, aber sie

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