Die Heilerin von Lübeck
steinernes Wohnhaus in der Nähe des Burgtors, wo sich der Marstall der reichen Bürger befand, die Hoffnung, den Spelunken entgehen zu können. Die Frauen, die dort ein und aus gingen, waren ordentlich, aber nicht kostbar gekleidet, und Taleke wagte, eine von ihnen anzusprechen. Sie erfuhr, dass es sich um das Kranenkonvent handelte. Ein Haus, in dem Frauen, ohne Nonnen zu sein, zusammen lebten und arbeiteten. Sie nannten sich Beginen. Das wollte Taleke auch gerne sein, aber sie wurde enttäuscht. Aufgenommen wurden nur ehrbare Lübeckerinnen, und sie mussten ein Erbe mitbringen oder gesuchte Künste beherrschen.
Ehrbar! Erbe! Im letzten Augenblick konnte sich Taleke zurückhalten, auf den Boden zu spucken, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, und machte sich wortlos davon. Die gutbürgerliche Gegend war für ihresgleichen so verschlossen wie eine bischöfliche Schatztruhe.
Am späten Nachmittag entdeckte Taleke in der mit alten Hütten und neuen Speicherhäusern bebauten Gasse, die eine verhärmte Frau ihr gegenüber als »Engelsgrube« bezeichnet hatte, endlich eine Taverne, die nicht völlig verkommen wirkte. Vor der Schenke musste sie sich ihren Weg nicht durch Unrat hindurch bahnen, und der Kellerhals war gefegt.
Vielstimmiges Gelächter, das sich eher nach Hopfenbier anhörte als nach Gagelbier und Wasserbrand, drang aus dem Gewölbe. Mit verhaltener Zuversicht stieg Taleke nach unten.
»Noch eine, wenn auch ein wenig spät! Dafür aber die Hübscheste von allen! Komm her, du! An meine Seite!«
Erstaunt betrachtete Taleke den ansehnlichen, vornehm gekleideten Mann, der sie so selbstverständlich zu sich rief, als hätte er auf sie gewartet. Er rückte ein wenig beiseite und klopfte auf die Bank zwischen sich und seinem Nachbarn. Ohne seinem Wink zu entsprechen, ließ sie ihren Blick über die Gesellschaft junger Männer schweifen, die mit Samt und Seide prunkten, als hielten sie hier Hof. Offensichtlich stammten alle aus gutem Haus. Zwischen ihnen kauerten kichernde, gurrende Frauen unterschiedlichen Alters, die sie nicht einordnen konnte. Ehrbare Ehefrauen waren sie vermutlich nicht. Geliebte wahrscheinlich, die hier wie überall vorkamen.
»Na, komm schon«, lockte der Kaufmann, oder was immer er sein mochte, und tippte wieder mit einem einladenden Lächeln neben sich. »Du darfst bei mir mitessen.«
Das gab den Ausschlag. Die Tafel bog sich unter Schüsseln mit dampfenden Speisen und unter Brettern, von denen das Fett floss. In der Mitte stand ein Butterberg, glänzend wie eine Mondscheibe, und Talekes Magen grollte mittlerweile wie ein fernes Gewitter. In der Spülküche des Tavernenwirts würde sie nichts zu essen bekommen, das auch nur im Entferntesten mit den Leckereien auf diesem Tisch vergleichbar wäre. Möglicherweise waren sie sogar aus einer der Garküchen für die vornehmen Kreise geliefert worden. Jedenfalls waren diese Jünglinge reich.
»Ich heiße Taleke«, erklärte sie munter, machte einen Knicks und zwängte sich unbefangen zwischen ihren Gastgeber und seinen Nachbarn.
»Und ich Nicolaus. Du bist wohl nicht von hier? Ich habe dich noch nie in Lübeck gesehen.«
»Stimmt«, bestätigte Taleke. »Ich bin gestern mit einer Kogge eingelaufen.«
»Ist es deine Kogge?« Nicolaus lachte schallend. »Du hast einen drolligen Ausdruck an dir, aber dass du mit einer Kogge reist, rechtfertigt dich. Du sprichst ausgezeichnet Platt, wenn es sich auch etwas fremd anhört.«
Das will ich meinen, dachte Taleke und nickte bekräftigend. Ihr ganzes Leben sprach sie so. Aber sie wusste nicht, wofür er sie hielt.
»Hier, trink!« Nicolaus schob Taleke seinen eigenen Becher mit einer Art Wappen hin.
Bevor man sie hinauswarf, wollte sie so viele unbekannte Speisen probieren, wie sie konnte. Das hatte sie sich vorgenommen, seit sie in Gheses Küche herumgeschnuppert hatte. Taleke nahm einen kräftigen Schluck. Sie verschluckte sich. Es war kein Bier, sondern Wein, von dem sie bisher nur gehört hatte.
»Man muss nicht gleichzeitig trinken und sprechen wollen«, tadelte Nicolaus sie sanft. »Nun greif zu, solange Fleisch und Semmeltorte noch warm sind.«
»Mache ich.« Unter dem Gelächter der Gesellschaft griff Taleke gierig nach allem, was Nicolaus ihr auf die große Scheibe Brot packte, die vor ihm lag.
Alle schauten staunend zu, wie Taleke die Speisen in sich hineinschaufelte. Irgendwann wurde es den Frauen langweilig, eine Konkurrentin zu beobachten, und langsam kam das Gespräch wieder
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