Die Heilerin von Lübeck
durchsucht, wie sie gehört hatte. Und wusste sie, ob man sie nicht als mittellose Landfahrerin sogar zurückgewiesen oder in eine Gefängniszelle gesteckt hätte?
Eine Schwierigkeit tat sich jetzt allerdings auf. Sie würde sich nicht zum Siechenheim der Franziskaner außerhalb des Burgtors trauen, um nach Brot zu fragen. Vielleicht ließe man sie nicht nach Lübeck zurück.
»Wahrschau!«, brüllte eine verärgerte Stimme. Noch bevor Taleke beiseitespringen konnte, saß sie mit dem Hinterteil in einer Pfütze und betrachtete einen riesigen, auf zwei Beinen wandelnden Warenballen von unten.
Beschämt sah sie sich zur »Brücke« um, um an Deck den unverschämt zu ihr herabgrinsenden Rothaarigen namens Tideke zu entdecken, und neben ihm Schiffer Wittenborch, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
»Pfft«, fauchte Taleke leise und wandte sich wieder der Mauer zu. Die schwer beladenen Träger keuchten in einem ununterbrochenen Strom durch die Pforten in die Stadt. Sie putzte sich ab, schlängelte sich zwischen den Männern durch, schlüpfte durch das Hafentor und war endlich an ihrem Ziel: in der Stadt Lübeck.
Taleke vergaß alle Gedanken an Tore und Wächter. Und auch an Schiffer Wittenborch, zu dem sie ein gewisses Vertrauen gefasst hatte.
Vor ihr lag eine breite, steingepflasterte Gasse, die sich schnurgerade den Hügel hochzog. Fast ehrfürchtig betrachtete sie die vielen steinernen Hausgiebel. Unmittelbar vor sich sah sie eine Kapelle und auf dem Hügel einen der vielen Kirchtürme, die vom Wasser aus sichtbar gewesen waren.
Beide erinnerten sie daran, dass sie schon wieder Hunger hatte. Das Mus, das sie auf der Kogge zum Morgenmahl bekommen hatte, war längst verdaut. Munteren Schritts sprang sie über die Schmutz- und Regenwasserrinne, die die Straße teilte, und schloss sich einer Gruppe von Pilgern an, die vor der Kapelle namens St.-Clemens-Kirche wartete. Sie hätte wetten mögen: auf Essen. Alle waren ausgerüstet mit dunklem Mantel, Schlapphut und Wanderstab, und Taleke hörte beeindruckt zu, was die Männer und die wenigen Frauen zu erzählen hatten.
Anscheinend stammten die Pilger aus verschiedenen Ländern rings um die Ostsee, aber in ihre eigenen Sprachen mischten sie immer wieder Plattdeutsch, und so verstand Taleke sie ganz gut.
Die Schlange der Wartenden rückte langsam vor. Taleke war bereits in der Kapelle angelangt, als sie merkte, dass nicht Essen, sondern kleine Abzeichen für den Besuch der Pilgerkapelle ausgegeben wurden. »Wo kann ich denn hingehen?«, fragte sie entgeistert die Frau, die die Pilger abfertigte. »Ich habe einfach nur Hunger.« Wegen der aus grauem Stoff gefertigten Tracht vermutete Taleke, dass sie eine Nonne war. Und die waren zur Hilfe verpflichtet, genau wie Mönche.
»Bei uns werden nur Pilger aufgenommen«, erklärte die Frau bedauernd. »Du hast wirklich nicht vor, mit anderen Gläubigen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu wandern?«
»Nein, ich möchte auf dem kürzesten Weg in einen Speisesaal wandern. Aber Geld habe ich kaum«, gab Taleke verzweifelt zu.
Die Nonne musterte sie streng. »Du siehst gesund und arbeitsfähig aus. Für Leute deines Schlages gibt es keine Almosen.«
»Ich will gerne für Essen arbeiten. Aber wo? Bitte verratet es mir, ich bin hier fremd!«
Die Nonne zuckte die Schultern. »Meine Aufgabe ist es, Pilger zu betreuen. Du gehörst offensichtlich nicht zu ihnen. Troll dich und mach Platz für die Frommen!«
»Amen!«, knurrte Taleke, verließ voller Wut die Pilgerkapelle und wanderte hügelaufwärts an vornehmen Häusern vorbei, zwischen denen vereinzelt alte, hölzerne Häuser stehen geblieben waren. Wahrscheinlich von besonders armen Kaufleuten. Sie schnaubte. Arme Kaufleute! Gab es die überhaupt?
Die meisten Häuser dieses Kaufmannsviertels waren jedenfalls aus Ziegeln erbaut. Unten, wo die Backsteine grün glasiert waren und sich hohe Fenster- und Türöffnungen befanden, lagerte anscheinend die Ware, wie Taleke missmutig feststellte, als sie einen Träger beobachtete, der in der lichtdurchfluteten Halle einen Sack ablud. Über der Halle befand sich der Giebel mit zahlreichen Öffnungen, die mit hölzernen Läden verschlossen werden konnten. Auch die sahen eher nach Lagerraum aus. Wo aber wohnte dann die Kaufmannsfamilie?
Straßauf, straßab das Gleiche. Nirgends ein Haus, an dem Taleke anzuklopfen gewagt hätte, und auch kein Kloster. Flüchtig wünschte sie sich zurück zu den Gauklern. Hier
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