Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Pesthexe daran zu hindern, zu Euch ins Bett zu kriechen, verkaufen Euch einen Binsenhalm als Mondstrahl und verlangen ein Vermögen dafür.«
Feyra hielt das Kinn hoch erhoben, als der Bootslenker ihr aus dem Dory half. Sie konnte nichts anderes tun, als sich mit ihrem Kasten zu den anderen zu stellen und ihre Ware feilzubieten.
Zur Mittagszeit hatte sie eine Flasche verkauft – an einen Mann, der eindeutig glaubte, sie wolle etwas ganz anderes verkaufen – und eine weitere umsonst herzugeben. Niemand schenkte ihrer Geschichte von dem Löwen und dem Brunnen Beachtung, sie ging im Stimmengewirr der anderen Verkäufer unter, die ihre Mittel anpriesen. Einer verkaufte Feuerholzbündel. Wacholder, Esche, Weinreben und Rosmarin, deren Rauch die Pest unter Garantie vertreiben würde, brüllte er. Ein anderer warb für ein Pulver aus Mastixholz, Lorbeer und Zypresse, das ins Feuer gestreut werden sollte. Eine Frau ganz in ihrer Nähe, die ein fast so kostbares Kleid trug wie Feyra, bot Riechäpfel aus Gummiarabikum an, die nach Rosen und Kampfer dufteten und mit rotem und weißem Zindeltaft kunstvoll umhüllt waren. Es gab Heilmittel für jeden Geldbeutel, von einem Gebräu aus Lavendel und Rhabarber für die Armen bis hin zu einem Pulver aus echten Smaragden oder einem Amethyst mit einem eingeritzten Gesundheitssymbol für die Reichen. Einige Mittel muteten geradezu bizarr an. Ein geschäftstüchtiger Bursche, der abgetrennte Taubenflügel zu verkaufen schien, besang die heilende Wirkung seiner Waren in einem klangvollen Bariton.
Feyra fühlte sich durch diese Konkurrenz herabgesetzt. Sie sah, wie eine Frau mit einem silbernen Becher an fast jeden Stand trat und verzweifelt versuchte, das Gefäß gegen einen Trank einzutauschen, der ihre einzige Tochter vor der Pest bewahrte. Da sie daraus schloss, dass sich das Kind noch nicht angesteckt hatte, gab Feyra ihr die zweite Flasche Theriak mit genauen Anweisungen, wie er anzuwenden war.
Nachmittags war sie selbst der Verzweiflung nah. Sie konnte es nicht ertragen, mit einem vollen Kasten nach Lazzaretto Nuovo zurückzukehren und Annibale zu sagen, er müsse sein Krankenhaus schließen. Sie war so sicher gewesen, die Insel für ihn retten zu können.
Sie blickte sich um. Annibale war so darauf bedacht gewesen, dass sie in Venedig nicht auffiel, dass sie mit ihrer Maske, dem Umhang und dem Gewand nicht anders aussah als all die anderen Damen von Stand, die sie zwischen den Ständen umhergehen sah. Vielleicht war ihr Kleid etwas prächtiger und ihre Haltung stolzer, aber sie war durch und durch venezianisch. Sie erinnerte sich an etwas, was Annibale gesagt hatte: Wenn alle Mittel gleich aussehen, brauche man etwas, was sonst niemand hatte, um sie verkaufen zu können. Der Sänger mit seinen Taubenflügeln hatte seine Ware schon längst losgeschlagen, seine Sachen zusammengepackt und war nach Hause gegangen. Qualität und Wirksamkeit zählten zunächst nicht. Qualität und Wirksamkeit würden einen Kunden zurückkommen lassen. Aber um zum ersten Mal etwas zu verkaufen, musste man sich von der Masse abheben.
Feyra hatte plötzlich eine Eingebung. Sie würde den Leuten etwas viel Schlimmeres erzählen als die Lügen der anderen Verkäufer. Sie würde ihnen die Wahrheit sagen. Sie fand eine alte Fischkiste, drehte sie um, nahm eine einzelne Flasche Theriak aus ihrem Kasten, legte Umhang und Maske ab und stieg auf die Kiste.
»Hört mich an, Bürger von Venedig«, übertönte sie das Stimmengewirr. »Hört die Geschichte vom Geheimnis des Sultans!« Sie zog die Aufmerksamkeit einer kleinen Gruppe von Menschen ganz in ihrer Nähe auf sich, die sich umdrehten, um zuzuhören, und andere Umstehende zum Schweigen brachten. Feyra fuhr mit ihrem besten venezianischen Akzent fort, bediente sich aber der traditionellen Gesten und Manierismen der osmanischen Geschichtenerzähler, um ihr Publikum zu fesseln. Fang mit einem Geheimnis an, erinnerte sie sich. Wecke ihre Neugier, erzähl ihnen etwas, was sie nicht wissen. »Ganz recht, ich bin im Besitz eines Geheimnisses, das von weither aus Byzanz kommt und das außer mir keine Menschenseele kennt. Ich weiß, wie die Pest nach Venedig gekommen ist, und ich alleine kenne das Heilmittel gegen die Seuche!«
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Stimme hallte über die Köpfe der jetzt verstummten Menge hinweg. Sie holte tief Atem und fuhr fort: »Die Türken haben uns die Pest gebracht! Ja, der osmanische Sultan hat die Seuche in unsere
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