Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
wurden. Sie blickte ihren Begleiter an und bemerkte, dass er sie musterte, als wäre sie eine Fremde.
»Mir gefällt diese ganze Sache nicht. Ich möchte nicht, dass du gehst«, sagte er.
»Dann geh du doch.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich heiße deinen Trank nicht gut, und ich nehme nicht für mich in Anspruch, ihn entwickelt zu haben. Außerdem muss ich als Arzt der Republik die Bestandteile eines jeden Heilmittels beim Consiglio della Sanità registrieren lassen, der dann einen Großteil des Profits einstreichen würde.«
Sie öffnete das Tor und löste sich aus seinem Schatten. »Ich bringe mich nicht in Gefahr«, versicherte sie ihm. »Ich bin eine harmlose Bürgersfrau, die ein hausgemachtes Mittel verkauft. Und du musst zugeben, dass ich sogar in deinen Augen venezianisch genug aussehe.« Sie dachte an das, was die Badessa gesagt hatte, dass sie sich ändern, sich Gott zuwenden und sich in den christlichen Westen integrieren könnte. Würde sie so aussehen wie jetzt, wenn sie wirklich Annibales Frau wäre? Sie biss sich leicht auf die Lippe, was ihren Mund noch röter wirken ließ.
Er blieb stehen und drehte sich um. »Ich wollte nie, dass du so aussiehst«, protestierte er so vehement, als wäre der Umstand, dass sie das wusste, plötzlich wichtiger als alle seine Anweisungen bezüglich ihrer Sicherheit in der Stadt.
Am Pier reichte sie ihm ihren gelben Pantoffel voller Zechinen. Sie tat es schnell, bevor sie ihre Meinung ändern konnte, denn ihr schwer verdientes Geld repräsentierte für sie die Rückkehr in die Türkei. Nun würde sie nie mehr nach Hause kommen.
»Für das Krankenhaus«, sagte sie. »Bis ich mit mehr zurückkomme.« Dann stieg sie rasch in die wartende Barke, wobei sie die ungewohnten Röcke behinderten. Ihr grünes Kleid breitete sich wie ein einzelnes Lilienblatt auf dem Wasser im Boot aus.
Feyra sah zu, wie Annibales Gestalt kleiner und kleiner wurde, als sich die Barke vom Steg entfernte. Seine Schnabelmaske verhinderte, dass sie erkennen konnte, was in ihm vorging, aber er drehte den gelben Pantoffel in seinen ausdrucksvollen Händen. Es war richtig gewesen, dass sie ihn ihm gegeben hatte. Sie hatte gedacht, sie würde es nicht über sich bringen, ihre Patienten im Stich zu lassen, aber die Wahrheit lautete, dass er es war, den sie nicht verlassen konnte, obwohl keinerlei Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mehr bestand.
34
Annibale hatte Feyra in einem Dory mit festem Boden in die Stadt geschickt, das genug Platz für ihren schweren Kasten und ihr voluminöses grünes Kleid bot, daher musste sich der Bootslenker, als er sich Venedig näherte, sehr vorsichtig zwischen dem Schiffsverkehr auf dem Kanal hindurchschlängeln.
Ein dichter Nebel aus Seedunst und dem Rauch der Pestfeuer hing tief über dem Wasser, sodass die Türme der Stadt daraus herausragten wie Binsen aus einem Sumpf und Feyra durch ihre Maske blinzeln musste, um festzustellen, in welche Richtung sie fuhren. Sie sah, dass das Dory fast genau auf die Stelle zuhielt, wo Il Cavaliere vor all diesen Monaten seine furchtbare Fracht ausgespien hatte. Dort waren der weiße filigrane Palast und die großen Zwillingssäulen, zwischen denen Tod hindurchgeschritten war.
Jetzt sah sie sein Werk.
Die zahlreichen Barken waren nicht mit Ausflüglern besetzt, sondern mit in Tücher gehüllten Leichen gefüllt, die schon mit schneeweißem Kalk bestäubt waren, weil sie auf ihrem Weg ins Grab zu verwesen begannen. Hier und da hob eine schwache Brise die Leichentücher an, und eine schwarz verfärbte Hand oder ein starrer Kiefer kamen zum Vorschein. Gelber Nebel hing über der Stadt und kappte die Spitzen der Kirch- und Glockentürme. Während Feyras monatelanger Abwesenheit hatte die Pest von Venedig Besitz ergriffen, und der Bedarf an dem, was sie zu verkaufen hatte, war groß. Sie straffte sich ein wenig und hielt sich die Pferdemaske vor das Gesicht. Heute hatte sie eine Rolle zu spielen.
Sie beugte sich vor. »Welches ist die Veduta della Sanità et Granari Pubblici ?«
Der Bootslenker deutete darauf. »Das große weiße Gebäude, Dama, mit all den Hausierern davor.«
Feyra spähte durch die Sehschlitze ihrer Maske zu dem langen, niedrigen Gebäude hinüber. Die Menschenmenge davor versperrte ihr fast den Blick auf die Säulen und Vorbauten. Überall waren Verkaufsstände aufgebaut worden. »Wer sind all diese Leute?«, keuchte sie.
Der Mann lachte bitter auf. »Traumverkäufer, Dama. Sie versprechen, die
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