Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
erlangte Unsterblichkeit schien ihn zu faszinieren, die Vorstellung, dass Pilger noch Jahrhunderte nach dem Tod des Architekten zu seinen Werken strömten, um dort zu beten. Er schien keinen Unterschied zwischen seinem Gott und ihrem zu machen, und Feyra begann sich zu fragen, ob er in diesem Punkt vielleicht nicht ganz unrecht hatte. Wenn Sinan und Palladio zwei Seiten einer Münze bildeten, wie bei der Münze, die sie in ihrem Mieder trug, dann verhielt es sich mit dem Gott des Westens und dem Gott des Ostens vielleicht ebenso. Vielleicht waren Palladios Allmächtiger und ihr Allah Spiegelbildgötter.
Sie schalt sich für diese gottlosen Gedanken und pflegte jeden Abend die Treppe hochzusteigen und laut genug zu beten, um das ständige Glockengeläut zu übertönen. Von Corona Cucina hatte sie die kanonischen Stunden gelernt, und diese fremdartigen Zeiten bestimmten jetzt ihre Tage – Matutin, Prim, Terz, Sext und Non. Die Köchin zählte andauernd die Perlen ihres Rosenkranzes ab, und ihr unerschütterlicher Glaube erinnerte Feyra an die Salaah, ihre eigenen Gebetsvorschriften. Sie schwor sich, sie im Herzen und im Kopf zu bewahren, auch wenn sie nicht zu den vorgeschriebenen fünf Zeiten, dem Gegenstück zu den kanonischen Stunden, niederknien oder Waschungen durchführen konnte. Doch ihre Pflichten und die Zeiten, zu denen die Mahlzeiten eingenommen wurden, hinderten sie daran, und bald vergaß sie es ganz.
Wenn sie sich daran erinnerte, betete sie inbrünstig und hoffnungslos und umklammerte dabei ihren gelben Pantoffel. Sie hätte sogar noch verzweifelter gebetet, wenn sie gewusst hätte, dass eines Abends, in einer dunklen Ecke des Dogenpalastes, eine unsichtbare Hand ein Stück Papier in einen Briefkasten geschoben hatte. Der Briefkasten selbst war nur ein Schlitz in der Mauer, aber dieser Schlitz war in das große steinerne Relief eines Löwenkopfes eingelassen und saß dort, wo das Maul des Tieres gewesen wäre. Hinter der steinernen Maske befand sich ein massiver Holzkasten, der im Büro des Camerlengo stand und nur von diesem persönlich geöffnet wurde. In diesem Fall enthielt die Denunziation, die der Löwe verschlang, nur ein paar Zeilen in einer unbeholfenen Handschrift: eine Wegbeschreibung zum Haus des goldenen Zirkels und den Namen von Feyra Adalet bint Timurhan Murad.
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Als die Zeit verstrich, dachte Feyra immer öfter und eingehender über das Konzept des Mizan nach.
Sie hatte immer daran geglaubt, dass eine Krankheit der Seele ebenso schädlich für den menschlichen Geist war wie eine Krankheit des Körpers, und Palladio war das typische Beispiel dafür. Feyra hatte seine seelische Krankheit geheilt und seine leidenschaftliche Hingabe an seine Arbeit zu neuem Leben erweckt. Sie verbrachte immer noch ihre Morgen mit ihm und berichtete von den Prachtbauten des Ostens, aber an den Nachmittagen und Abenden zeichnete er mit Zabato Zabatini neue Pläne für seine kuppelbewehrte Kirche.
Händler schleppten Berge von frischem Papier, Tiegel mit Tinte, staubige Kohlestifte und Sägemehl zum Löschen der Tinte herbei. Der Zeichner zeichnete bis spät in die Nacht hinein, während Palladio ihm über die Schulter spähte oder hinter ihm auf und ab schritt, redete und mit den Händen fuchtelte, um die Bögen und Säulen in die Luft zu malen. Und auf dem Papier schien ein Wunder zu entstehen, Palladios in Schwarz und Weiß zu Papier gebrachte Vision. Jede Dimension war exakt ausgewogen, alle Maße genauestens aufgelistet, die Pläne für die Steinmetze, die sie in Stein umsetzen sollten, detailliert ausgearbeitet.
Zum ersten Mal bewunderte Feyra Zabatos Kunstfertigkeit. Palladios Zeichnungen waren kapriziöse Fantasien, die Zabato mit der Realität verband. Er zeichnete nicht mit Leidenschaft, sondern mit Genauigkeit und machte so die Verwirklichung der Fantasie möglich.
Feyra sorgte sich jetzt nicht länger um Palladios seelische Verfassung, sondern mehr um seine sterbliche Hülle. Sie lauschte den Geräuschen, die aus seiner Brust drangen, wenn er sich über die Pläne beugte, und wusste, dass er der Pest zum Opfer fallen würde, wenn die Seuche jetzt in das Haus eindrang. Sie dachte über den Besuch des Vogelmannes nach. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass die Ärzte Venedigs sich so kleideten wie die Schamanen der Wilden, und sie war erstaunt, als sie seiner Unterredung mit Palladio entnommen hatte, dass er als der beste Pestarzt der Stadt galt. Sie hatte nur einigem zugestimmt, was er gesagt
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