Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
den Kosmos zu umarmen schien, und machte Feyra auf den sternenübersäten Nachthimmel aufmerksam. »Ich habe mein Leben auf Vitruvs Schultern aufgebaut. Er ist meine Inspiration.«
Feyra blickte zu den Sternen empor, denselben Sternen, die über Konstantinopel funkelten. Sie dachte an die von Mimar Sinan entworfenen Minarette und Kuppeln, erinnerte sich daran, wie Nurbanu mit dem ernsten, einen Turban tragenden Mann an den Plänen für ihre Moschee gearbeitet und eine Treppe hier, einen Zierbogen dort und eine Zwischenwand da vorgeschlagen hatte. Wieder betrachtete sie das Buch von Vitruv. Den Kreis im Quadrat. Jetzt war die Form anders, dreidimensional, veränderte sich vor ihren Augen. Sie erfasste die Bedeutung. Es war eine Kuppel.
»Vielleicht … will Euer Gott nicht dasselbe wie immer. Vielleicht wünscht er etwas ganz anderes.« Sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig. »Der Mann, von dem ich Euch erzählt habe … sein Name ist Mimar Sinan.«
»Ein Ungläubiger?«
»Ein Architekt«, berichtigte sie ihn streng.
Palladio neigte den Kopf. »Es ist spät. Komm am Morgen zu mir. Dieser lästige Arzt wird mich gegen Mittag behandeln, aber komm vorher zu mir. Ich möchte gerne mehr über diesen Sinan erfahren.«
Als sie sich verneigte und den Raum verließ, sah sie, wie Palladio mit seinen harten Fingern verzückt die Seiten umblätterte. Er hatte sich ein sauberes Blatt Papier und einen Kohlestift geholt und zeichnete wieder und wieder einen Kreis in einem Quadrat.
21
Als Feyra am nächsten Morgen Palladios studiolo betrat, sah der Raum völlig anders aus.
Die Wände waren sauber geschrubbt, und der einzige Beweis für das Feuer war ein Rußfleck auf dem Wandbehang über dem Kaminsims. Die Pläne waren wieder weggepackt worden, nur das bei dem Kreis und dem Quadrat aufgeschlagene Buch von Vitruv lag auf dem Tisch, und der Mann mit den vielen Gliedmaßen starrte von der Zeichnung an der Wand aus seinem geometrischen Gefängnis herab. Der große Stuhl war in die Mitte des Raums gerückt worden. Palladio forderte sie auf, sich zu setzen, während er selbst stehen blieb. Feyra gehorchte, und ihr Besuch in Konstantinopel begann.
Der Architekt wies sie an, mit im Schoß gefalteten Händen still dazusitzen und die Augen zu schließen. Dann bat er sie, sich nach Konstantinopel zurückzuversetzen und von ihrem Haus aus loszugehen. Er humpelte um sie herum, während sie sprach, und feuerte Fragen auf sie ab wie ein Bogenschütze Pfeile auf eine Zielscheibe. Fasziniert tat Feyra, wie ihr geheißen.
In Gedanken trat sie über die Schwelle des kleinen Hauses in Sultanahmet, das sie mit ihrem Vater geteilt hatte, und ging über das ausgetretene, warme Kopfsteinpflaster. »Bring mich irgendwo hin«, hörte sie Palladios ferne, heisere Stimme, und sie bog links zum Basarviertel ab und schlenderte über den Gewürzmarkt. Sie war so in ihrem Tagtraum gefangen, dass sie die beißenden Düfte riechen und die heruntergefallenen Kräuter unter den Sohlen ihrer dünnen gelben Pantoffeln spüren konnte. Sie ging weiter, bis sie das Imaret-Tor erreichte. »Wo bist du?«, fragte die Stimme.
»Ich bin an der Süleymaniye-Moschee, der Grabstätte Süleymans, dem größten Gebäude, das Sinan je gebaut hat.« Jetzt gelangte sie in den Schatten des Muvakkithane-Tors und kam sich im Vergleich zu der prächtigen Marmorkonstruktion geradezu zwergenhaft klein vor. »Und jetzt bin ich im avlu, einem großen Hof auf der Westseite. Dort gibt es lange Säulenreihen.«
»Ein Peristyl, ein von Säulen umgebener Innenhof. Weiter.«
Während der Architekt sie gelegentlich mit Fragen unterbrach, ging Feyra im Geiste in dem gesamten Komplex herum und beschrieb minutiös alle Säulen, Höfe und Minarette.
»Und was ist mit der Kirche selbst?«, fragte er.
»Die Hauptkuppel ist so hoch wie der Himmel und innen vergoldet, als hätte jemand einen Blitz eingefangen. Das Innere ist fast quadratisch …«
»Ein Kreis in einem Quadrat«, hauchte die Stimme weicher als zuvor. »Weiter.«
»Zusammen ergeben beide Formen einen einzigen riesigen Raum. Die Kuppel wird von Halbkuppeln flankiert, und bei den nördlichen und südlichen Bögen gibt es Fenster mit Dreiecken darüber.«
»Und wie werden die Kuppeln gestützt?«
Feyra drehte sich unter der Kuppel um. »In die Wand sind Stützstreben eingebaut, aber sie werden von den Bögen der Galerien verborgen.«
»Er hat die Stützpfeiler verdeckt, um einen harmonischen Eindruck zu erzeugen.
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