Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
kann, mag er nur kommen.«
Annibale schnaubte, woraufhin ihn sein Gegenüber scharf musterte. »Ihr seid nicht gläubig? Geht nicht in die Kirche?«
Annibale musterte ihn mit einem gereizten Blick. »Ich habe in der diesseitigen Welt zu viel zu tun, um mich mit der jenseitigen zu beschäftigen. In Eurem Beruf würdet Ihr Gott auch besser dienen, wenn Ihr der Menschheit dienen würdet. Bevor Ihr Eure Kirche baut, solltet Ihr bessere Wohnhäuser bauen. Die Pest hat sich hauptsächlich aufgrund überfüllter enger Räume, unerträglicher hygienischer Verhältnisse und mangelnder Belüftung so rasend schnell ausgebreitet. Gesundheit beginnt zu Hause.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten auf, und er sah den Arzt zum ersten Mal richtig an. »Ihr habt vollkommen recht«, sagte er so nachdrücklich, als sei er auf eine verwandte Seele gestoßen. »Fahrt fort.«
Annibale öffnete den Mund, um seinem Zorn auf die Republik und die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die sie den Armen zumutete, freien Lauf zu lassen, schloss ihn dann aber wieder. Er musste zu seiner Insel zurück, seiner Insel und seinen Patienten. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt – ich muss mich um die kümmern, die mich wirklich brauchen. Wir sehen uns in sieben Tagen«, sagte er knapp, bevor er mit wehendem Umhang aus dem Raum rauschte.
Leider wurde sein dramatischer Abgang dadurch verdorben, dass er die falsche Tür öffnete und sich in einem kleinen Vorraum wiederfand, in dem ein Dienstmädchen herumhantierte. Sie schrak zusammen, lief rot an und durchbohrte ihn mit einem bernsteinfarbenen Blick, bevor sie ihre fremdartigen Topasaugen respektvoll niederschlug.
Automatisch taxierte er ihr Äußeres, wie er es bei allen Menschen tat. Ihre Haut war makellos, die Wangen glühten geradezu vor Gesundheit. Palladios Dienerschaft schien zumindest nicht von der Pest befallen zu sein, und damit war der Kampf schon halb gewonnen. »Verzeihung«, bellte er aufgrund der lächerlichen Situation noch barscher als sonst, bevor er sich zurückzog und das Haus verließ. Diesmal durch die richtige Tür.
23
Feyra verbrachte jeden Morgen in Palladios studiolo. Ihre Pflichten wurden anderen übertragen, und Zabato Zabatini erhielt die Anweisung, nur nachmittags zu seinem Herrn zu kommen. Niemand im Haus machte eine Bemerkung darüber:
Der Herr arbeitete wieder.
Feyra berichtete ihm von der neuen Moschee, die Sinan für ihre Mutter baute, ein Bauwerk, das jetzt Nurbanus Grab werden würde. Während dieser Gespräche hielt sich Zabato Zabatini oft im Raum auf, und Feyra spürte, wie er sie durch seine Augengläser hindurch beobachtete, als würden ihre Stimme und ihre Züge ihm Cecilia zurückbringen.
Doch sie vergaß Zabato rasch, denn nun wurden Palladios Fragen immer direkter. Da sie gesehen hatte, wie die Moschee entstanden war, wollte er wissen, wie die Kuppel konstruiert war, wie sie gestützt wurde und sogar, wie die Steinmetze die Steine zuschnitten. Er war von dem Konzept geradezu besessen. Wie verwandelte man einen Kreis innerhalb eines Quadrats in eine Kugel innerhalb eines Würfels? Eine richtige, ästhetisch ansprechende und nach allen geometrischen Regeln Vitruvs erbaute Kuppel musste unter sich ebenso viel Platz aufweisen, wie sie oben einnahm – eine Leere, die die Betenden mit ihrem Glauben ausfüllen würden.
Manchmal zeichnete er lauter geschwungene Linien und kritzelte die Details in Randnotizen daneben. Manchmal zeichnete sie selbst und fand heraus, dass ihr der Stift gut in der Hand lag, denn sie hatte gelernt, anatomische Zeichnungen anzufertigen. Immer wieder wurde Feyras Blick von dem vitruvianischen Mann an der Wand angezogen. Seine Geometrie erklärte jedem die Zeichnungen im Raum, und sein Ausdruck versinnbildlichte das Zusammenwirken von Feyras Disziplin und Palladios Architektur – Anatomie und Baukunst.
Manchmal fragte Palladio sie auch über Sinan selbst aus, und sie versuchte, sich so gut wie möglich an den stillen kleinen Mann mit dem Turban zu erinnern. Es bestanden durchaus Ähnlichkeiten zwischen Mimar Sinan und Andrea Palladio: Beide waren bärtig, gütig und völlig von ihrer Arbeit besessen, sodass man sie für Brüder hätte halten können, die durch ein Meer getrennt waren. Doch Palladio erkundigte sich genauso oft nach den alten Bauwerken wie nach den neuen.
Wieder und wieder bat er Feyra, ihm von der Eyüp-Moschee zu erzählen, die den Schrein des Standartenträgers ihres Propheten beherbergte. Durch Bauwerke
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