Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
erstickender Stimme: »Herr! Hilf mir bitte! Ich weiß nicht mehr weiter!«
Da war es wieder! Das göttliche Zeichen wurde sichtbar! Der Fingerzeig, der Maria die Unterstützung des Himmels versicherte. Auf dem Gesicht der Christusfigur erschien ein Tropfen, genau unter dem linken Auge. Erst klein und unscheinbar, wuchs die Träne dann heran. Schon rann sie an der kleinen Statue hinab und tropfte zu Boden. Auch unter dem zweiten Auge bildete sich ein Tropfen. Immer mehr Tränen traten hervor. Christus weinte, weinte über ihr Unglück. Nun wusste Maria ganz genau, dass die Rettung nahte. Jetzt wurde ihr geholfen.
Maria fuhr erschrocken herum. Jemand war an der Tür, der Riegel knirschte. War das die Rettung? Doch statt der erhofften Hilfe erscholl das laute Gebrüll der Angreifer. Die Tür flog mit einem Ruck auf, und sie stürmten die kleine Wohnung. Männer mit wutverzerrten Gesichtern, derbe Gestalten, die nach Raub und Mord lechzten. Ihre metallenen Waffen blitzten gefährlich.
Dann spürte sie die Schmerzen am ganzen Körper. Schließlich empfing Maria eine erlösende Dunkelheit.
Agnes
Mittwoch, 8.8.1386
Agnes!«
Die junge Nonne schreckte von ihrer Arbeit hoch, als sie gerade den Boden des Refektoriums 1 im Kloster St. Jakobi in Rinteln wischte. Wohlweislich drehte sie sich nicht um. Agnes kannte die giftige, zischende Stimme der Priorin Margarete Rennemann, der jungen Vertreterin der Äbtissin, nur zu gut. Schwester Margarete war ständig schlechter Laune, hatte überall etwas auszusetzen und fand große Befriedigung daran, zu befehlen und Anordnungen zu geben wie ein Heerführer. Und ständig hatte sie eine Weidengerte dabei, wie ein General seinen Befehlshaberstab. Falls eine der Novizinnen nicht schnell genug reagierte, schlug Schwester Margarete auch schon einmal zu. Wie es schien, bereiteten ihr diese Demütigungen ein großes Vergnügen; denn ihr zynisches Grinsen konnte sie dabei selten verbergen. Dabei war die Rennemann erst knapp über zwanzig Jahre, sogar etwas jünger als Agnes. Aber wieso diese Person Priorin geworden war, konnte nur Gott verstehen.
»Komm mit zur Äbtissin! Aber sofort!«
Agnes von Ecksten sagte besser nichts und sprang schnell auf. Sie ließ Lappen und Eimer einfach stehen und folgte eilig der fülligen Priorin. Was war denn jetzt schon wieder? Agnes überlegte fieberhaft. Sie hatte doch ganz genau aufgepasst, das Schweigegebot nicht zu brechen oder einen winzigsten Augenblick zu spät zur Messe zu kommen.
Agnes machte einen ehrerbietigen Knicks vor der Äbtissin Greta von Hattelen, einer Frau Mitte vierzig. Mit ihrer zierlichen Figur sah sie von fern eher wie eine junge Novizin aus, nicht wie die ehrbare Vorsteherin eines Klosters. Die junge Nonne schaute demütig zu Boden, während sie von einem strengen und erbarmungslosen Blick gemustert wurde.
»Eine Frau ist überfallen und verletzt worden. Du wirst ihr helfen, sie verbinden und sie dann hierherbringen. Sie braucht Betreuung. Ein Knecht wird dir das Haus zeigen. Er wartet schon unten vor der Tür.«
Agnes nickte.
»Und denk an das Schweigen. Es ist dir nicht erlaubt zu sprechen, bis die Buße beendet ist. Beeil dich gefälligst! Los jetzt!«
Agnes machte wieder einen Knicks und hastete hinaus. Geschwind holte sie ein paar Leinenbinden und Kräutersalben aus der Klosterapotheke. Und schon war sie an der Pforte, um dem wartenden Knecht zu folgen. Vom Kloster aus eilten die beiden an der Stadtmauer entlang und am Seetor dann nach links in die Bäckerstraße. Vor dem dritten Haus rechter Hand hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Es wurde getuschelt und getratscht. Immer wieder reckte einer der Anwesenden neugierig den Kopf und versuchte zu ergründen, was hinter der offenen Eingangstür vor sich ging. Aber in dem dunklen Flur war nichts zu erkennen.
Der Knecht drängte sich rücksichtslos durch die wartenden Nachbarn. Agnes folgte ihm, so gut es ging. »Da oben isses«, brummte er nur noch und zeigte die Treppe hoch.
Agnes eilte allein hinauf. Im zweiten Stock stellte sich ihr plötzlich ein Mann mittleren Alters in den Weg. Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und funkelte sie grimmig an. Sie kannte ihn nicht, aber nach seiner wertvollen Kleidung und dem pelzbesetzten Hut zu urteilen, schien er etwas Besseres zu sein. Möglicherweise einer der Ratsherren. Seit sie in Rinteln war, hatte sie ihre Zeit ausschließlich im Kloster verbracht und konnte daher unmöglich die städtischen Oberhäupter
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