Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
kennen. Sie schaute sich schnell um. Niemand, der sie wegen der Übertretung des Schweigegebotes maßregeln konnte.
»Ich bin von der Äbtissin des Klosters St. Jakobi geschickt worden. Ich soll einer verletzten Frau helfen.«
»Könnt ihr das überhaupt?«, kam es abfällig.
Agnes öffnete ihren Mund, aber sie wusste nicht, was sie auf diese patzige Bemerkung antworten sollte. In solchen Situationen versagte sie jedes Mal.
»Es gibt keine Bessere«, erklang es plötzlich von der Seite. Sie drehte ihren Kopf und erblickte Johannes vom Domhof, den Verwalter vom Stift Möllenbeck. Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich schlagartig. Sie kannte Johannes schon ihr ganzes Leben lang. Seitdem sie ins Möllenbecker Stift eingetreten war, hatte sie ihn fast täglich gesehen. Stets hatte er ein nettes Wort für sie übrig oder einen lustigen Spruch. Johannes hatte Agnes auch nicht nachgetragen, dass wegen ihr die Hochzeit seines Sohnes Ludolf mit der Tochter eines anderen Ritters geplatzt war. Ludolf hatte sich trotz ihres Gelübdes in Agnes verliebt und wollte keine andere mehr heiraten. Oder genauer gesagt, sie hatten sich ineinander verliebt.
»Herr vom Domhof, was für eine nette Überraschung«, rief sie ihm entgegen.
»Ich bin wegen einiger geschäftlicher Angelegenheiten hier in Rinteln. Und wie geht es euch, Agnes?«
Sie lächelte verschämt und traute sich nicht zu antworten.
Johannes bemerkte ihre Verlegenheit und zeigte auf den Mann, der ihr den Weg versperrte. »Dies ist der Herr Ulrich von Engern, der Onkel der Verletzten.«
Agnes hatte schon von ihm gehört, ein einflussreicher Mann in Rinteln, und machte artig einen Knicks.
»Geht schon!«, brummte Ulrich und gab den Weg frei.
Johannes vom Domhof betrat zusammen mit der jungen Frau den Raum. »Bitte nicht erschrecken«, warnte er sie – zum Glück noch früh genug.
Ein kräftiger Mann von etwa dreißig Jahren lag leblos auf dem Rücken und streckte alle viere von sich. Er hatte seine Jacke noch an, als sei er gerade erst nach Hause gekommen. Zahlreiche Wunden bedeckten seinen Körper. Sein Hemd war völlig von Blut durchtränkt. Anscheinend waren es die Verletzungen in der Brust gewesen, die zum Tod geführt hatten. Der Mann war von so kräftiger Statur, dass es sicherlich mehrere Angreifer gewesen sein mussten, die ihn überwältigt hatten.
Sie kannte den Toten. Sie hatte ihn vor ein paar Tagen zur Äbtissin in ihr Arbeitszimmer geführt. Agnes erinnerte sich noch gut daran; denn nachdem sie den Raum wieder verlassen hatte, war es zwischen dem Mann und der Äbtissin recht laut zugegangen. Es hatte nicht unbedingt wie Streit geklungen, aber Greta von Hattelen war später sehr gereizt gewesen und hatte alle möglichen Mitschwestern barsch angefahren.
»Dies ist Kunibert Nachtigal. Seine Frau Maria ist in der Schlafstube«, erklärte Johannes und zeigte in den angrenzenden Raum. »Sie ist auch angegriffen und verletzt worden. Immer, wenn man sie allein lässt, versteckt sie sich unter dem Bett. Ihr müsst sie hervorlocken.«
Agnes betrat vorsichtig das zweite Zimmer. Auf dem Boden waren einige Blutspritzer, die zum Bett führten.
»Keine Angst bitte. Mein Name ist Agnes. Ich komme aus dem Kloster, um euch zu helfen«, rief sie beim Eintreten.
Sie kniete sich nieder und blickte vorsichtig unter das an der Wand stehende Bett. Eine Frau drückte sich in die hinterste Ecke und hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Trotz des Halbdunkels erkannte man, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie atmete stockend und murmelte leise vor sich hin. Sie wirkte noch immer vollkommen verstört. Sie musste Schlimmes erlebt haben.
Agnes sprach ruhig und sanft mit ihr. Schließlich nahm Maria die Hände vom Gesicht und schaute die Fremde mit großen, dunklen Augen an. Sie strich sich vom Angstschweiß verklebte, schwarze Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie war noch recht jung, höchstens zwanzig Jahre alt.
»Kommt doch hervor«, bat Agnes. »Damit ich eure Wunden verbinden kann.«
Mit ängstlicher Stimme fragte Maria: »Sind sie weg?«
»Wer?«
»Die Fremden.«
»Draußen warten nur Nachbarn und Soldaten. Die passen auf, dass kein Fremder mehr ins Zimmer kommt.«
Langsam und vorsichtig um sich schauend kroch Maria hervor. Agnes half ihr, sich auf das Bett zu setzen. Die Frau zitterte wie Espenlaub und hatte verweinte, blutunterlaufene Augen. Ihre Haut war von dunklerer Färbung als bei den meisten anderen Leuten hier, als würde sie den ganzen Tag in der
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