Die heimliche Gemahlin
keine Frau mehr lebte. Ängstlich schmiegte sie sich an Daniel.
„Setzt euch! Ich werde euch etwas zu essen holen“, forderte Seward die beiden auf und eilte in einen angrenzenden Raum.
Die beiden nahmen Platz, und er kehrte bald darauf mit zwei Tellern zurück. Während Helena ihr Frühstück einnahm, betrachtete sie die Gesichter der Männer am Tisch. Damit brach sie erneut eine von Mrs. Nunleys goldenen Regeln - die wohlerzogene junge Dame durfte niemanden anstarren. Bis Mrs. Nunley eine Etikette für Entführungen verfasste, blieb Helena allerdings nichts anderes übrig, als sich so durchzuschlagen. Außerdem fiel den Kerlen gar nicht auf, dass sie sie ansah. Sie waren viel zu beschäftigt damit, Daniel auszufragen.
So fand sie Gelegenheit, sich jedes Gesicht genau einzuprägen. Der große Rotschopf hatte eine Narbe an der Schläfe. Ein anderer hatte schiefe Zähne und leuchtend blaue Augen. Den lebhaften Jungen nannten sie Ned. Falls Daniel und sie dieses Abenteuer lebend überstanden, wollte sie in der Lage sein, jeden einzelnen der Kerle genau zu beschreiben. Vielleicht würde Griffith dagegen sein, die ganze Bande den Konstablern zu übergeben, um einen Skandal zu vermeiden. Falls aber nicht, wollte sie ihm so gut wie nur möglich helfen.
Wenn sie die Schurken nur zeichnen könnte ... Sie besaß ja noch die Skizze von Daniel und den Bleistift! Ausgezeichnet. Vielleicht gelang es ihr, jemanden zu finden, der das Blatt zu Griffith nach London brachte. Dann hatte der leichtes Spiel gegen diese Halunken ...
Nur leider sah es im Augenblick kaum danach aus. Wahrscheinlich würden sie und Daniel noch eine ganze Weile bei der Bande ausharren müssen.
Pryce war nicht unter den Kerlen. Ob er sich noch immer irgendwo allein mit Juliet versteckte? Der Gedanke erschreckte Helena. Sie beugte sich zu Daniel und flüsterte: „Pryce ist nicht dabei. Dann wird Juliet wahrscheinlich auch nicht hier sein.“
Er nickte. „Ich werde versuchen, etwas über sie herauszufinden. Nur halt du dich da bitte heraus. Sie dürfen auf keinen Fall herausfinden, wer du bist“, antwortete er kaum hörbar.
„Was murmelt ihr beiden da?“ wollte Jack wissen und runzelte die Stirn.
Daniel drückte ihr warnend die Hand, damit Helena den Mund hielt. „Meine Gattin ist erschöpft, nachdem sie heute Morgen so rüde geweckt wurde. Gibt es hier ein Zimmer, in dem sie sich ungestört ein wenig hinlegen kann?“ fragte er dann.
Überrascht guckte sie ihn eindringlich an. Er wollte sie doch wohl nicht allein lassen, lieber Himmel!
„Ja, ja, oben könnt ihr beide schlafen.“ Seward stand auf und deutete auf die Treppe. „Ich bringe sie hinauf.“
„Danke, Jack.“ Daniels Blick kreuzte den ihren.
Sie verstand die Aufforderung. Möglicherweise war es doch das Beste. Die Männer waren sicher auskunftsfreudiger, was Juliet und Pryce anging, wenn Helena nicht daneben saß. Außerdem erhielt sie dadurch Gelegenheit, ihre Gesichter zu zeichnen. Also erhob sie sich, nahm den Arm, den der alte Schmuggler ihr bot, und ließ sich von ihm hinauf geleiten. Als sie oben angekommen waren, sah sie, dass drei Türen von dem kleinen Flur abgingen, die alle geschlossen waren.
Seward erriet Helenas Gedanken. „Die Kleine ist nicht hier. Wie ich schon sagte, befindet sie sich an einem ganz anderen Ort.“
„Aha“, erwiderte sie und beherrschte mühsam ihre Enttäuschung.
Das Zimmer, in das er sie brachte, war freundlich eingerichtet, wenn auch nicht eben besonders sauber oder aufgeräumt. Eilig räumte Jack ein Hemd und einige Socken weg. „Verzeihen Sie, Madam, aber mir blieb keine Zeit mehr, hier Ordnung zu schaffen, bevor ich heute Nacht aufbrach. Ich verstehe auch nicht viel von Hauswirtschaft.“
„Ist das Ihr Zimmer?“
„Nein. Das meiner Söhne. Ich hab drei Jungs, und alle sind so unordentlich wie ihr Vater.“
Auf einmal kam ihr der Alte gar nicht mehr so entsetzlich vor. Wallace war ein Schuft, Seward mit seinen drei Söhnen schien hingegen kein Unhold zu sein! Er sah auch überhaupt nicht so aus, wie man sich einen Bösewicht landläufig vorstellte. Sie betrachtete ihn aufmerksam mit den Augen einer Malerin. Es lag wahrscheinlich an Jacks Alter. Sein Haar war grau, und er hatte Falten um die Augen und die Mundwinkel. Er musste weit über fünfzig sein und damit eigentlich schon ziemlich alt für einen Schmuggler. Doch das war es nicht allein. Seine offensichtliche Zuneigung zu Daniel nahm sie für Seward ein.
Allerdings ging
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