Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Recht, geboren zu werden.«
»Dilbert«, hatte Petra gesagt und sich gezwungen, ihre Stimme zu senken. Was er gesagt hatte, hatte sie verletzt. Sie musste ihm erklären, dass sie ihre Familie liebte. Dass sie ihn liebte. Ihn sogar so sehr liebte, dass sie ihn endlich auch einmal ohne das ganze familiäre Tohuwabohu drum herum genießen, ihn für sich allein haben wollte. Nicht nur als Vater, als Familienmitmanager, als Ernährer, Verwalter, Kinderaufzuchtsverbündeten. Sie wollte ihn in Zweisamkeit genießen. In jener Zweisamkeit, die andere Paare am Anfang ihrer Beziehung auskosten, in jenen Jahren, bevor sie sich entschließen, Kinder zu bekommen.
Doch wie romantisch würde es zwischen Dille und Petra werden, wenn er ihr jeden Tag aufs Neue, mit jedem Blick, mit jeder unterlassenen Geste, mit jedem nicht ausgesprochenen lieben Wort vorwerfen würde, ihr gemeinsames Kind ermordet zu haben? Wieso verstand er nicht, dass es nicht darum ging, sich vor Verantwortung zu drücken, sondern darum, das nachzuholen, was ihnen bislang versagt geblieben war? Sie hatten doch nur dieses eine Leben. War es da wirklich so unverantwortlich, auch einmal an sich selbst zu denken? Am eigenen Glück zu arbeiten? Einen Lebensplan zu verfolgen? Petra hatte einfach nicht die Kraft, die letzten zwanzig Jahre zu wiederholen. Wieder zum Säuglingsschwimmen zu gehen, in Krabbelgruppen, die Dreimonatskoliken zu überstehen, einen Kindergartenplatz zu suchen, Kindergeburtstage zu feiern. Laternenumzüge, Masern, Mumps, Zahnspangen, diese verdammte Pubertät … Das war alles okay gewesen. Das war alles gut gewesen. Erfüllend. Aufregend. Schön. Wirklich schön. Aber alles hatte seine Zeit. Diese Phase ihres Lebens war jetzt vorbei. Das musste Dille doch begreifen. Das musste sie ihm doch erklären können.
»Entschuldigung, darf ich mal?« Eine Frauenstimme schreckte Petra aus ihren Gedanken auf.
Petra schaute auf und sah eine junge Frau, die einen Buggy schob und offenbar ins Haus wollte. Petra saß ihr im Weg.
»Ich müsste da mal rein«, lächelte die Frau.
Das Kind im Buggy schaute Petra an.
Petra schaute das Kind an.
Und dann fing Petra an zu weinen.
* * *
Ich weiß nicht genau, was ich in der Botschaft und bei unserer Rettet-Sven-Aktion erwartet hatte, aber der jahrelange Konsum von Hollywood-Filmen hat zweifelsohne einige Klischees in meinem Kopf festgesetzt. Die grimmigen Kindersoldaten, die uns widerwillig ins Innere des Gebäudes führten, entsprachen diesem Stereotyp ja durchaus, und dementsprechend hätte meiner Vorstellung nach nun so etwas folgen müssen wie ein bärbeißiger, stiernackiger General oder Major oder wie diese Militärheinis so hießen, der uns in bellendem Tonfall mitteilte, dass unser »Freund«, der ja zweifelsohne nicht der harmlose Feingeist sei, den er uns jahrelang vorgespielt habe, bereits zur »Befragung« in ein »befreundetes Drittland« gebracht worden sei. Ich sah Sven bereits mit einer Kapuze über dem Kopf und Elektroden an den Hoden in einem dreckigen Kellerloch irgendwo in Syrien oder Ägypten leiden.
Rund zehn Minuten standen der neugierige Arne, der ängstliche Jörn und ich ratlos im Foyer der Botschaft herum, während hinter verschlossenen Türen offenbar eifrig diskutiert wurde, wie man mit uns umzugehen gedachte. Vielleicht mussten die Amis Sven noch die Blutflecken abwischen und ihn darüber in Kenntnis setzen, dass sie seine Bankkonten einfrieren und ihm einen Mord anhängen würden, wenn er jemals auspackte, welch bestialischen Foltermethoden an ihm praktiziert worden waren.
Ich war wirklich auf alles vorbereitet, als zwei Soldaten zu uns traten und einer von ihnen knurrte: »Follow us, please.«
Man führte uns durch einen Gang, dann wurde eine Tür geöffnet. Wir traten ein und sahen einen entspannten Sven in einem hellen und freundlichen Konferenzraum sitzen. Keine schockierende Szenerie, kein Blut, keine Schmerzensschreie. Sven gegenüber saßen zwei Frauen. Die eine war etwa fünfzig Jahre alt und von einer mütterlichen Molligkeit, die andere war höchstens fünfundzwanzig, sonnenbankgebräunt, aufwendig frisiert und auffallend sexy gekleidet – eindeutig der Cheerleader-Typ, nur um ein weiteres USA-Klischee zu bedienen. Was machte so eine Tussi in einer Botschaft? Auf dem Tisch standen drei Pappbecher mit Kaffee und ein Teller voller Donuts.
Sven schaute erstaunt auf, als wir den Raum betraten. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er. »Und wie seid ihr hier
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