Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Schluck. Wenn schon keine Pulitzer-Preis-verdächtige Story bei dieser Aktion heraussprang, dann wollte er doch zumindest einen Kaffee absahnen.
»Don’t forget … Vergessen Sie nicht unsere Tickets!«, rief Trixie Sven nach, als wir fast am Ende des Ganges angekommen waren.
»Natürlich nicht«, lächelte Sven, und jetzt erkannte ich doch einen Hauch von Haifischgrinsen in seinen Zügen. »Ich werde für die Premiere eine ganze Reihe für die amerikanische Botschaft reservieren.«
»Awesome!«, freute sich Trixie.
Normalerweise kümmerte sich Arne in der Redaktion vorwiegend um politische Themen, doch in diesem speziellen Fall ließ er es sich nicht nehmen, ein paar Tage später über die bemerkenswerte Premiere von Der Besuch der alten Dame im Thalia Theater zu berichten. Folgendes stand in der Morgenpost:
Giftige alte Dame
Von Arne Burghart
Seinem Ruf als gewitzter Provokateur wurde Regisseur Sven Niederweg auch bei seiner ersten Inszenierung am Großen Haus des Thalia Theaters gerecht. Nachdem er unlängst auf der Studiobühne mit seinem Debütstück Treppensturz einen Überraschungserfolg gelandet hatte, begeisterte er das Publikum nun mit einer frechen Neudeutung des Dürrenmatt’schen Klassikers Der Besuch der alten Dame. Das ganze Publikum? Nein, eine kleine Gruppe war sichtlich empört und hätte das Theater zweifelsohne schon in der Pause verlassen, hätte es eine gegeben. Die komplette siebte Reihe des Parketts, in der zahlreiche Premierengäste der amerikanischen Botschaft saßen, fand Niederwegs mutige und witzige Neuinterpretation des Stoffes alles andere als amüsant. Die Damen und Herren murrten, knurrten und redeten während der gesamten Vorstellung und wurden von anderen Zuschauern des Öfteren zum Schweigen ermahnt.
Dürrenmatts Stück handelt bekanntlich von einer Milliardärin, die alle Bewohner einer Kleinstadt mit dem Versprechen einer großzügigen Geldspende zu einem Mord anstiftet. Doch bei Niederweg hat die skrupellose alte Dame keine persönlichen Rachemotive, sondern will das Dorf in bestem Kolonialstil übernehmen. Sie ist eine amerikanische Investorin und Invasorin in Personalunion, ihre allseits präsenten Diener sind tumbe und brutale Soldaten, die jedem Befehl gehorchen und für ihre aggressive Willfährigkeit am Ende mit einem exklusiven Auftritt der fiktiven Pop-Ikone Wixie Washington belohnt werden – eines sonnenbankgebräunten Dummchens, das in tiefausgeschnittenem Top und lasziv hauchend ausgerechnet ein Lied aus König der Löwen zum Besten gibt. Apropos Musik: Da der arabischstämmige Avantgard-Musiker Mahmoud Armat, dessen Zwölfton-Kompositionen zu den Höhepunkten des Stückes zählen, aus terminlichen Gründen nicht nach Deutschland reisen konnte, wurden seine Songs in New York auf Video aufgenommen und auf einer geschickt ins Bühnenbild integrierten Leinwand abgespielt.
Nach knapp zwei Stunden gab es für die burleske Inszenierung tosenden Applaus. Fast eine Viertelstunde lang applaudierte das Premierenpublikum – bis auf Parkettreihe sieben. Die hatte sich sehr schnell geleert.
Silvester 2001
N ach Bernhards Tod hatten wir Kirschkernspucker einen Pakt geschlossen: Wir würden jedes Jahr Silvester zusammen feiern. An diesem besonderen Abend würden wir alle Jahre wieder eine Einheit sein. Je älter man wurde, desto mehr verlor man sich schließlich aus den Augen. Es wurde immer schwieriger, gemeinsame Termine zu finden, ständig kam etwas dazwischen. Aber wenn es einen Tag im Jahr gäbe, an dem wir fest verabredet waren, der festgenagelt war und an dem es nichts zu rütteln gab, dann würde die Kirschkernspuckerbande sich niemals vollständig auflösen.
Von allen Kirschkernspuckern hing ich sicher am meisten an unserer Freundschaft, blickte am häufigsten zurück auf unser gemeinsames Leben, sah in den inzwischen vierzigjährigen Menschen immer noch am deutlichsten die Kinder und Jugendlichen, die Abenteurer und Träumer, die Sucher und Finder, die wir alle einmal waren – und, das glaube ich zumindest, auch immer noch sind. Schließlich war auch ich es gewesen, der das Buch über uns geschrieben hatte. Klar, nicht jeder Kirschkernspucker war uneingeschränkt glücklich darüber, wie ich ihn oder sie in meinem Roman charakterisiert und welche Geheimnisse ich über ihn oder sie ausgeplaudert hatte, aber dieses Buch war doch so etwas wie ein Manifest unserer Freundschaft geworden. Ein theoretisches Manifest allerdings. In der Praxis, im täglichen
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