Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
ausführliche Erläuterungen. Dabei lernte ich Folgendes: Das Jahr 2001 gehörte mordtechnisch eindeutig den Skandinaviern. Vor allem die Schweden schienen selbst zwischen Frühstück und Mittagessen noch mal schnell jemanden zu meucheln. Ich las diverse nordische Moritaten quer – Romane von Henning Mankell, Åke Edwardson, Håkan Nesser – und stellte schnell fest, dass meine Idee einer depressiven Privatdetektivin längst nicht so originell war, wie ich gedacht hatte. Unsere nordischen Nachbarn hatten ihre gesamte Verbrechensaufklärung längst in die Hände weltschmerzgeplagter, finster grübelnder und chronisch schwermütiger Ermittler gelegt. Die traurige Schnüfflerin, die mir durch den Kopf geisterte, wäre da bloß ein billiger Abklatsch gewesen. Und so ging es hin, mein Konzept.
Ich stöberte weiter in dem Stapel. Ein anderer Trend war offenbar die Gerichtsmedizin. Eine gewisse Kathy Reichs hatte mit diesem Sujet angefangen, und eifrig hatten andere Autoren nachgezogen. Deren Bücher wimmelten vor minutiösen Beschreibungen der Vorgänge auf Seziertischen. Tja … Nee, das war auch nicht so mein Ding. Und außerdem wollte ich ja auch nicht kopieren, sondern einen eigenen Stil entwickeln. Etwas Originäres. Etwas, von dem die Leute sagen sollten: Ja, das ist ein echter Lehmann!
Ein paar Stunden lang arbeitete ich an einem Serienkiller-Plot, den ich verwarf, als ich erkannte, wie sehr meine Phantasie mit mir durchgegangen war. Ich hatte mich, ohne dass ich so recht wusste, wie das passieren konnte, zu unglaublich brutalen und grausamen Details hinreißen lassen. In meinem Romanentwurf fanden sich Folter, Blut und Perversion satt. Ich hatte den Killer sogar ein Kind umbringen und dessen Ohrläppchen an die Wand nageln lassen. Widerlich. Ich schämte mich ein bisschen für meine eigenen abartigen Gedankengänge und löschte die Ekel-Datei mit dem Storyentwurf. Kein Mensch würde jemals so etwas Scheußliches lesen wollen. Ein dermaßen degenerierter Bestseller war völlig undenkbar.
Als ich darüber nachdachte, ob ich meiner Privatdetektivin eine andere psychische Störung als Depressionen verpassen könnte – irgendeine lustige Phobie oder das Tourette-Syndrom oder so –, klingelte das Telefon. Es war Arne, ein ehemaliger Kollege bei der Morgenpost. Während ich den Journalismus hinter mir gelassen hatte und daran arbeitete, Deutschlands neue literarische Stimme zu werden, beschäftigte sich Arne nach wie vor Tag für Tag mit Hamburger Regionalpolitik, spektakulären Verkehrsunfällen, Stadtgeflüster und im Stadtgebiet angesiedelten Verbrechen.
»Hey, Piet«, sagte Arne. »Du bist doch mit Sven Niederweg befreundet, oder? Dem Theatertypen.«
»Äh, ja«, sagte ich. »Wieso?«
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube, die Amis haben ihn festgenommen.«
»Was?!«
»Ich war gerade unten an der Botschaft, um zu gucken, ob da mal wieder eine Demo ist oder ob neue Blumenkränze aufgestellt wurden oder ob die Amis über Nacht zwischen ihre Zäune auch noch Tretminen gelegt haben … Du weißt ja, irgendeine Story oder ein schräges Bild kriegt man an der Botschaft immer irgendwie hin. Also, ich war da unten, und plötzlich sah ich, wie die Soldaten einen Mann am Eingang überwältigten und in die Botschaft zerrten. Und ich glaub, das war dein Kumpel Sven. Ich hab den doch neulich bei dieser Premiere kennengelernt und …«
»Das kann nicht sein«, unterbrach ich Arne. »Sven interessiert sich einen Scheiß für Politik. Der lebt nur für sein Theater. Was soll der denn bei der Botschaft?«
»Ich hab Fotos gemacht«, sagte Arne.
»Okay«, sagte ich. »Ich rufe mal bei Sven an. Und wenn er nicht da ist, dann komme ich bei dir in der Redaktion vorbei und schaue mir die Fotos an. Obwohl ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass …«
»Ich kann dir die Bilder auch schicken. Du hast doch eine E-Mail-Adresse, oder?«, fragte Arne amüsiert.
Ich schluckte peinlich berührt und kam mir unsagbar alt vor. Natürlich, Leute wie Arne hatten inzwischen diese neumodischen Digitalkameras, bei denen man Bilder gar nicht mehr entwickeln musste.
Ich gab Arne meine E-Mail-Adresse und wartete auf seine Nachricht. Eine Minute später war sie da. Ich klickte auf den Anhang und lud drei Fotos herunter, die ich allerdings nicht öffnen konnte. Ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich das Programm gefunden hatte, mit dem sich Fotos anschauen ließen. Das tat ich dann auch – und sah tatsächlich
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