Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
in seine Gefühle gedrängt hatte, was es war, was ihn an Jörn zu stören begann. Es war nichts Großes, nichts Spektakuläres. Es war ein kleines Stechen. Ein Unbehagen. Ein Verlust von irgendwas. Nur von was?
»Ich liebe den frischen Fisch hier«, sagte Jörn. »Wir sollten morgen gleich noch mal welchen holen.«
Sven nickte. Er nahm einen Bissen von der Scholle. »Lecker«, sagte er.
Und dann gestand er sich ein, was es war, was ihn an Jörn störte: Sein Mann war nicht mitgewachsen. Sven hatte in den letzten Jahren eine fast atemberaubende Karriere hingelegt, war binnen kürzester Zeit eine große Nummer in der Kulturszene geworden, hatte seitdem den ganzen Tag mit faszinierenden Menschen zu tun, mit Schauspielern und Künstlern, Mäzenen und preisgekrönten Literaten. Nicht solchen Unterhaltungsschreibern wie Piet. Nein, richtigen Schriftstellern. Um Sven herum schwirrte ein Volk von schillernden Persönlichkeiten. Es war ein Mikrokosmos aus Menschen, die es geschafft hatten, der Anonymität und dem Mittelmaß zu entkommen. Und er, Sven, war ein Teil dieser Welt. Was Sven sagte, war plötzlich wichtig. Weitreichend. Beeindruckend.
Jörn aber war ein arbeitsloser … Kaufmann. Zugegeben, auch Jörn hatte am Theater gearbeitet, so hatten sie sich schließlich kennengelernt. Doch während Sven sich im kreativen Bereich austobte, war Jörn immer ein Zahlenmensch gewesen. Ein Organisator. Ein solider Berechner. Das hatte Sven sogar gefallen. Damals. Das Bodenständige. Das Verlässliche. Das Behütende. Denn sein eigenes Leben war bis vor zwei Jahren noch unbeständig gewesen. Es war nicht klar gewesen, ob er sich zeitlebens von Job zu Job, von Bühnenbild zu Bühnenbild würde hangeln müssen. Jörn war sein Anker gewesen. Er hatte ihn unterstützt und abgesichert. Emotional. Und auch finanziell. Jetzt aber war es umgedreht: Sven war der große Zampano. Der umjubelte Künstler. Und Jörn war … Jörn war seine Hausfrau. Sven hasste sich für diese Gedanken. Er wollte es nicht so sehen. Er wollte Jörn weiterhin respektieren. Ich liebe ihn doch noch, sagte er sich. Aber dann fragte er sich: Tue ich das wirklich? Er wusste es nicht. Und es tat ihm weh, es nicht zu wissen. Nicht zu wissen, wo Liebe aufhörte und Vertrautheit anfing. Und nicht zu wissen, ob es nach der Vertrautheit noch weiter bergab ging. Zur Routine? Oder war das vielleicht ganz normal? Eine Transformation von großer Leidenschaft zu etwas anderem? Zu etwas weniger Spannendem, aber irgendwie Beruhigendem? War es das, was man »sesshaft werden« nannte? Gehörte das so? War das genug? Wollte er mit Jörn nun viele Jahre lang gemessenen Schritts auf dem breiten, sicheren, aber abwechslungsarmen Lebensweg dahinschlendern und all die Abenteuerparcours ignorieren, die rechts und links abzweigten? War er dafür nicht zu gut? Sven wusste, dass er einen arroganten Zug entwickelt hatte. Er war ehrlich genug mit sich selbst, um sich das einzugestehen. Es war ein schmaler Grat zwischen Selbstbewusstsein und Überheblichkeit, und er fand nicht immer die richtige Balance. Wenn man so schnell und so spektakulär Erfolge feierte wie er, war man plötzlich von Menschen umgeben, die einem erzählten, wie großartig man war. Man wurde überallhin eingeladen. Auf Partys musste Sven sich nicht mehr um Gesprächspartner sorgen. Er war derjenige, der belagert wurde, beweihräuchert, umschwärmt. Jörn passte nicht ins Bild. Es war nicht so, dass Sven sich für ihn schämte. Ganz ehrlich nicht. Aber er war auch nicht mehr stolz auf ihn. Jörn war eine Selbstverständlichkeit geworden. Alltag. Ein kleiner Mann. Ein toller Mann, nach wie vor. Aber klein. Und Sven wuchs. Und wuchs. Und wuchs. Und er fing an, auf seinen Mann hinabzuschauen.
Mein Gott, dachte Sven, wir sitzen hier in einem Ferienhaus in Dänemark. In Pillepalle-Dänemark! Nebenan wohnte diese Familie aus Pinneberg, die sie immer so übertrieben freundlich grüßten, als wollten sie unbedingt demonstrieren, dass sie nichts gegen Schwule hätten. Sven, über den Theater heute neulich ein vierseitiges Porträt veröffentlicht hatte, hatte die Einladung des angesagten Theaterautors Roland Schimmelpfennig in die Toskana ausgeschlagen und auf diese spektakuläre Party in Wien verzichtet, um jetzt hier in Hvide Sande Scholle und Kartoffelsalat zu essen.
»Noch Remoulade?«, fragte Jörn.
Sven schüttelte den Kopf. Er hatte genug.
* * *
Petra wuchtete den blauen Müllsack aus dem Auto. Er war randvoll mit
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