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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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hatte Nele Susanns Helfer-Gen geerbt, einen angeborenen Trieb, allen Schwachen und Unglücklichen dieser Welt zur Seite zu stehen.
    Susann umarmte Nele ebenso stürmisch, wie ich es getan hatte, als ich mit ihr zurückkam.
    Dann musterte sie Jegor, den Nele an der Hand hielt. »Du?«, staunte Susann. »Wo sind deine Eltern?«
    »Halt’s Maul, lass mich in Ruhe«, zischte Jegor.
    »So was sagt man nicht!«, schimpfte Nele mit ihm.
    Jegor sah sie erstaunt an.
    Susann erklärte mir, ohne dass Jegor es hören konnte, dass sie den Jungen kenne. Er sei ein »Problemkind«, die Mutter offenbar »in der Erziehung überfordert«. Den diplomatischen Lehrerjargon bekam man aus Susann nicht heraus.
    Wir Kirschkernspucker standen ratlos um den Jungen herum.
    »Wo wohnst du?«, fragte ich Jegor.
    Der kleine, zarte Junge schaute mich feindselig an. Neles Tadel schien ihn davon abzuhalten, erneut pampig zu werden.
    »Deine Mama und dein Papa machen sich bestimmt schon Sorgen. Wir müssen dich nach Hause bringen«, sagte Susann.
    Jegor schwieg weiter.
    Susann legte ihre Hand auf seine Schulter: »Jegor, hör mal …«
    »Lass mich los, oder ich hol die Bullen!«, rief Jegor. »Du bist eine Perserve!«
    Dille lachte. »Das heißt Perverse«, korrigierte er das Kind. Petra trat ihrem Mann gegen das Schienbein.
    Dann nahm Nele die Hand des Jungen und sagte: »Komm, wir gehen zu dir.«
    Und Jegor latschte los. Erst jetzt sah ich, dass er Hausschuhe aus Stoff trug, seine Füße mussten bei den Minusgraden dieser Winternacht schon halb erfroren sein. Ich verzichtete trotzdem darauf, ihn auf den Arm zu nehmen und zu tragen – nicht, dass ich noch als Kinderschänder verhaftet wurde.
    Wir folgten Nele und ihrem rüpelhaften Schutzbefohlenen. Eine kleine Kirschkernspuckerkarawane auf einem Kinderkreuzzug.
    Jegor wohnte einige Straßen entfernt. Er hatte bei seiner ziellosen Odyssee einen beträchtlichen Weg zurückgelegt. Seine Eltern standen mit Freunden vor dem Hauseingang ihres Wohnblocks. Eine Flasche Sekt kreiste zwischen ihnen, sie tranken direkt aus der Pulle.
    »Hier«, sagte Jegor zu Nele und ließ ihre Hand los.
    Ein Mann, der sich als Jegors Vater erwies, sah seinen Sohn und rief: »He! Komm her! Ich hab Knallfrösche!«
    Er hatte einen osteuropäischen Akzent und war betrunken. Scheinbar hatte niemand hier die Abwesenheit des Kindes überhaupt bemerkt.
    »Ihr Sohn ist allein durch die Straßen gelaufen«, sagte Susann. »Und er hat nicht mal richtige Schuhe an.«
    »Ja, ja«, knurrte der Mann und nahm Jegors Hand. »Hier«, sagte er und reichte seinem Sohn ein Feuerzeug. »Du zündest an, und ich schmeiß den Knallfrosch weg, ja?«
    Jegor strahlte.
    Jegors Eltern und auch Jegor selbst würdigten uns keines Blickes mehr. Nach einer Weile gingen wir deshalb einfach davon.
    »Muss man da nicht das Sozialamt anrufen oder so?«, fragte ich.
    »Theoretisch, ja«, sagte Susann, die sich als Pädagogin mit solchen Sachen auskannte. »Aber praktisch würde das nichts ändern.«
    »Aber die haben ihr Kind in der Silvesternacht einfach so draußen herumrennen lassen. Das ist doch eine Verletzung der Aufsichtspflicht«, empörte ich mich.
    Dille und Petra lachten gleichzeitig los, und als mich auch Susann kopfschüttelnd angrinste, begriff ich die Absurdität meiner Bemerkung: Wir hatten genau dasselbe getan.
    »Komm«, sagte Dille zu Nele. »Du bist ja völlig durchgefroren. Ich mach dir erst mal einen Glühwein.«
    Nele kicherte.

2002
    M oment mal«, sagte ich zu der Frau am Verkaufstresen. »Dieses Schokoladencroissant kostet neunzig Cent?«
    Die Frau nickte und zeigte auf das kleine Pappkärtchen in der Auslage, auf dem die Preise der einzelnen Backwaren ausgewiesen waren. »Ja, steht da doch.«
    »Aber vor einem halben Jahr hat es noch neunzig Pfennige gekostet, dann müsste es jetzt fünfundvierzig Cent kosten. Ein Cent sind zwei Pfennige«, erklärte ich.
    Die Frau zuckte mit den Schultern. Sie kannte diese Diskussion offenbar zur Genüge.
    »Inflation«, sagte sie.
    Ein Fremdwort, das ich nicht von ihr erwartet hätte. Nicht von einer Frau, die fünf verschiedene Farbtöne auf ihren künstlichen, krallenartigen Fingernägeln untergebracht hatte. Fingernägeln, die vermutlich jede dritte Brötchentüte zerrissen, die sie anfasste.
    »Das wäre eine Preissteigerung von hundert Prozent in wenigen Wochen«, sagte ich. »Wenn es dafür eine logische und zwingende Begründung gäbe, hätten wir das Stadium einer wirtschaftlichen

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