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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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sollten Nele holen und schon mal mit den Wunderkerzen und dem Goldregen beginnen. Es ist schon fast elf. Um Mitternacht ist sie wahrscheinlich längst eingeschlafen.«
    Und so erhoben wir uns. Die anderen zogen Jacken und Stiefel an, während Susann die kindertauglichen Feuerwerksutensilien aus der Küche holte und ich die Schlafzimmertür öffnete: »Schätzchen …«
    Nele war nicht da.
    Ich rief nach ihr: »Nele! Wir wollen Wunderkerzen anzünden!«
    Nichts. Ich lief durch die ganze Wohnung und schaute in jedes Zimmer. Nichts.
    »Nele!« Meine Stimme hatte einen deutlich schrilleren Ton angenommen.
    Immer noch nichts.
    Susann kam aus der Küche und schaute mich besorgt an.
    Ich rief verzweifelt: »Nele?! Nele, wo bist du?!«

    Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst wie in dieser Nacht. Nachdem wir alle gemeinsam die Wohnung durchforstet und unter die Betten und die Schränke geschaut hatten, in der Hoffnung, unsere Tochter würde mit uns bloß Verstecken spielen, waren wir nach draußen geeilt. Jeder für sich allein hatte angefangen, Nele zu suchen. Wir zerstreuten uns in alle Richtungen, denn wir hatten nicht den Hauch einer Ahnung, wo wir suchen sollten. Sie konnte überall und nirgendwo sein. Es war ein Alptraum.
    Die Straßen waren voll mit feiernden, betrunkenen Menschen, die mit Chinaböllern um sich warfen. Flaschen zerbarsten auf dem Pflaster, Leute grölten. Es war dunkel, chaotisch und laut. Wir riefen immer wieder Neles Namen, doch was in einer normalen Nacht gut vernehmliche, angstvolle Rufe gewesen wären, ging im Tumult der Jahreswende unter. Ich fragte unzählige Leute, ob sie ein kleines Mädchen gesehen hätten, versuchte Männer und Frauen zu rekrutieren, gemeinsam mit uns zu suchen, doch kaum jemand hörte wirklich zu. Einige schauten halbherzig ein wenig in ihrer näheren Umgebung herum, doch die meisten waren betrunken, beschäftigt, am Böllern. Es war die denkbar schlechteste Nacht für ein kleines Mädchen, um zu verschwinden.
    Wer keine Kinder hat, wird nicht in Gänze nachvollziehen können, was in diesem Moment in mir vorging. Sicher kann man sich theoretisch vorstellen, wie schrecklich solch eine Situation sein muss, man kann sich die Sorge und die Angst irgendwie ausmalen – doch nur, wer selbst Vater oder Mutter ist, kann den wirklichen Horror ermessen, der mich damals ergriff. Nele ist nicht bloß ein Teil von mir, meine Verantwortung, mein geliebter Schützling. Sie ist mehr als ich. Es war, als würde ich entzweigerissen.
    »Nele! Nele! Nele!«
    Der Name meiner Tochter erklang hier und da, gerufen von Sven und Jörn, von Dille und Petra, von Susann und mir. Rufe, versteckt zwischen feiernden und lachenden Leuten, erstickt durch plötzliche Donnerschläge und pfeifendes Feuerwerk. Ich schrie Neles Namen immer wieder, mit brechender, sich überschlagender Stimme. Ich musste auf die anderen Leute wie ein Betrunkener, wie ein Irrer, wie ein Besessener gewirkt haben.
    »Nele!!!«
    Und dann hörte ich sie.
    »Ich bin hier! Papa!«, drang ihre Stimme zu mir durch.
    Ich lief auf die Stimme zu. Nele war auf dem Pausenhof ihrer Schule. Sie saß ganz oben auf dem Klettergerüst und winkte mir fröhlich mit einer Wunderkerze zu. Neben ihr wurde eine zweite Wunderkerze geschwenkt. Ich erkannte einen Jungen, der neben ihr saß. Ein, zwei Jahre älter vielleicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Meine Erleichterung war so riesig, dass ich völlig vergaß zu schimpfen. Ich lief auf das Gerüst zu und kletterte meiner Tochter entgegen, die gerade den Abstieg absolvierte. Ich nahm sie in den Arm und drückte sie fest.
    »Mach das nie wieder«, sagte ich. »Nie, nie wieder. Wir hatten solche Angst um dich.«
    Nele ignorierte meine dramatischen Worte und zeigte auf den Jungen, der immer noch auf dem Gerüst saß. Seine Wunderkerze war inzwischen verglüht.
    »Das ist Jegor«, sagte Nele.

    Wie sich später herausstellte, hatte Nele Jegor durch das Schlafzimmerfenster gesehen. Im Fernsehen hatte ein Siebziger-Jahre-Medley geflimmert, und weil Nele die absurde Komik in musikalischen Auswüchsen wie Boney M. und den Bay City Rollers noch nicht erkannte, hatte sie gelangweilt auf die Straße hinausgeschaut und dort Jegor entdeckt, den sie aus der Schule kannte.
    »Er hat traurig ausgesehen, und er war ganz allein«, erklärte Nele. »Und da hab ich die Tüte mit den Wunderkerzen genommen und bin rausgegangen. Jegor sitzt gern auf’m Kletterturm. Also sind wir da hingegangen.«
    Offensichtlich

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