Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Ewigkeit her. Trotzdem hätte ich sie alle mitsingen können. Das fand ich irgendwie erschreckend. War das nicht ein erstes Anzeichen für Demenz oder Alzheimer, wenn man kristallklare Erinnerungen an Dinge hatte, die mehrere Dekaden zurücklagen, aber sich gleichzeitig nicht mehr daran erinnern konnte, was man am Abend zuvor gegessen hatte? Sushi. Der Tag vor unserer Silvesterfeier war wieder einmal ein Mumpf-Tag gewesen, und ich hatte mir Sushi bestellt. An diese Tatsache erinnerte ich mich ebenso klar wie an Ten Years After und an die Rubettes. Gott sei Dank.
Zehn vor zwölf erhoben sich alle. Außer Petra, die immer noch versuchte, den Kleinen zu besänftigen. Dille, Sven, Jörn und Susann holten die Feuerwerkskörper hervor, die wir mitgebracht hatten. Wir gingen in den Flur, zogen Mäntel und Schuhe an, legten unsere Schals um, setzten Mützen auf.
»Ich geh noch mal kurz aufs Klo«, sagte ich und verzog mich ins Bad, während die anderen lachend und plaudernd mit ihren Knall- und Leuchtutensilien nach draußen gingen.
Ich bin ein gut domestizierter Mann, ein artiges Kind der feministischen Generation. Ich pinkle im Sitzen. Nicht nur zu Hause. Ich ließ also Hose und Unterhose hinunter und setzte mich auf das Klo. Neben der Toilette stand ein Korb mit Comics darin, Dille las offenbar gern Calvin und Hobbes. Ich nahm mir eines der Büchlein und blätterte darin. Die Dinger sind echt witzig. Ich saß auf dem Klo, hatte mein kleines Geschäft längst erledigt, verspürte aber wenig Neigung, mich zu erheben. Ich fühlte mich ganz wohl hier. Allein. Nur mit Calvin. Und mit Hobbes. Doch ich legte den Comic zurück in den Korb, beschloss, gleich aufzustehen und nach draußen zu gehen. Nur eine Sekunde noch, dachte ich. Eine ruhige Sekunde, zum Nachdenken. Ich schloss die Augen und sammelte mich. Komisch, aber ich schien Kraft tanken zu müssen, um mit meinen besten Freunden den Jahreswechsel feiern zu können. Ich senkte den Kopf und atmete tief aus. Los jetzt, Piet. Hoch mit dir. Gleich. Eine Sekunde noch …
Das Nächste, was ich hörte, war lautes Klopfen.
»Piet?«, fragte eine Stimme. Es war Susann. »Piet?!«
»Hm«, murmelte ich und rappelte mich auf. Ich war weggedöst. Auf dem Klo. Einfach so. »Ja«, sagte ich. »Ich komme. Alles klar. Moment.«
Ich brauchte noch ein paar Sekunden, um endgültig zu mir zu kommen. Dann stand ich auf, zog die Hose hoch, spülte ab und öffnete die Tür. Ich wusch mir die Hände, während Susann ins Bad gestürmt kam.
»Piet!«, rief sie.
»Ich komme ja schon«, sagte ich. »Hast du die große Leuchtkugelbatterie schon aufgestellt? Die will ich Punkt zwölf …«
»Es ist fünf nach«, sagte Susann.
Erst jetzt bemerkte ich, dass auch die anderen da waren und mich durch die Tür ratlos anstarrten.
»Ich klopfe schon ganz lange. Wir haben uns gewundert, wo du bleibst …« Susann klang besorgt.
»Ich hab gedacht, du kackst«, sagte Dille. »Ich hab noch gesagt, sie sollen dich in Ruhe lassen, als sie dich rechtzeitig für Mitternacht holen wollten. Ein Mann muss schließlich tun, was ein Mann tun muss. Aber dann …«
»Was ist denn passiert, um Himmels willen?!«, rief Susann. »Was …?«
»Du hast doch gar nicht viel getrunken«, sagte Sven.
»Ich weiß auch nicht«, murmelte ich. »Ich war plötzlich ganz müde. Ich …«
Ich schaute in die besorgten Gesichter meiner Freunde. Selbst Baby Adrian, das Petra auf dem Arm trug, war angesichts dieser bizarren Situation verstummt.
»Ich glaube, wir fahren besser nach Hause, hm?«, sagte ich kleinlaut zu Susann.
2003
I ch hab WAS?!« Mein Gesicht entgleiste, als Dr. Pommerenke mir die Diagnose servierte.
Pommerenke – ein graumelierter Herr mit Adlernase – war bereits der dritte Doktor, den ich wegen meiner mysteriösen Müdigkeitsattacke konsultiert hatte. Ich hätte die ganze Sache gerne ignoriert, doch Susann hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mich nicht in Ruhe lassen würde, bis ich mich meinem Problem stellte. Ich hatte gehofft, es aussitzen zu können, doch Susann hatte einfach Termine für mich vereinbart.
Den ersten Termin – und das fand ich durchaus dreist von der Frau, die ich liebe – machte sie bei einem Neurologen und Psychiater. Der faselte, nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, irgendetwas von »milder Depression« und einer Phase in meinem Leben, in der ich unterbewusst mein bisheriges Dasein hinterfragen und mit einer nicht greifbaren Furcht und Ratlosigkeit
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