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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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helfen, wenn er sich nicht helfen lassen wollte.
    Und so stand Susann am 30. Juni als Single unter den fast sechzig Leuten in der Pausenhalle, trank ein Glas Wein, aß Kuchen und Kekse und wartete auf den Anpfiff.
    »Hat dein Mann keine Zeit?«, fragte Körber.
    »Der guckt mit Freunden. Ist ein altes Ritual, das machen die schon seit Ewigkeiten bei jeder EM und WM zusammen«, antwortete Susann.
    Körber nickte verständnisvoll. Es war eine absolut glaubwürdige Lüge. Außer man kannte Piet.

    Die Stimmung war gut, kippte aber bei einigen Leuten merklich, als abzusehen war, dass Deutschland diese WM nicht gewinnen würde. Die Brasilianer, die ihnen im Finale gegenüberstanden, waren einfach besser.
    »Das muss man den Negern einfach lassen«, sagte jemand neben Susann. »Die können sich bewegen. Flink wie Hölle!«
    Susann drehte sich erstaunt um. Es war Berg. Der Neue. Er hatte erst in diesem Schuljahr bei ihnen angefangen, war von einer anderen Schule, irgendwo in Hessen oder so, hierher gewechselt. Berg war noch relativ jung. Anfang dreißig. Ein Surfertyp. Viele Mädchen aus der neunten und zehnten Klasse schwärmten für ihn.
    »Neger sagt man eigentlich nicht mehr«, merkte Susann freundlich an.
    »Ja, ich weiß«, lachte Berg. »Das sind jetzt Afroamerikaner. Aber Brasilien ist in Südamerika, also sind sie streng genommen Afrolatinoamerikaner. Und das ist schon ein verdammt langes Wort.«
    Berg war charmant. Keine Frage. Doch Susann störte sich trotzdem an seiner Wortwahl. Sie blieb freundlich und war fest entschlossen, kein großes Ding daraus zu machen, als sie sagte: »Trotzdem. Du kannst doch auch vor den Schülern nicht von Negern sprechen. Du hast diesbezüglich doch eine Vorbildfunktion.«
    »Keine Angst. Ich unterrichte Mathe und Physik«, grinste Berg. »Da kommen dunkel pigmentierte Menschen generell nicht im Lehrstoff vor.«
    Susann lächelte halbherzig und wandte sich von ihm ab, dezent genug, um nicht unhöflich zu sein, aber deutlich genug, um das Gespräch zu beenden. Sie fand es unglaublich, dass heute, im Jahr 2002, jemand immer noch das Wort »Neger« in den Mund nahm. Abgesehen von einer Handvoll Rentner, die es nicht besser wussten oder nicht mehr umdenken konnten, müsste es doch eigentlich aus dem aktiven Wortschatz verschwunden sein.
    »Ach, Scheiße!«, schrie Berg jetzt laut auf.
    Susann schaute auf die Leinwand. Die Deutschen hatten ihr zweites Tor kassiert. Die Weltmeisterschaft war endgültig gelaufen.
    »Pisser!«, schimpfte Berg.
    Susann wusste nicht, ob ihr impulsiver Kollege damit die übermächtigen Brasilianer oder die schwachen Deutschen meinte.

    Als Susann kurz vor Mitternacht nach Hause kam, saß Piet auf dem Sofa. Er schaute einen Film. Irgendwas Schwarzweißes. Er hatte sich neulich in den Kopf gesetzt, er müsse all die großen Filmklassiker nachholen: Metropolis, M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Citizen Kane, Der Malteser-Falke …
    »Hallo, Traumfrau«, sagte Piet. »Spaß gehabt?«
    »Die Deutschen haben verloren«, sagte Susann.
    »Tja«, sagte Piet. Er drückte auf die Pausetaste der Fernbedienung. Das Bild gefror.
    Susann erkannte Marlene Dietrich. Sie stand in einem Zeugenstand vor Gericht. »Alles okay mit Nele?«, fragte sie.
    »Schläft tief und fest«, antwortete Piet.
    »Und du?«, fragte Susann.
    »Ich schlaf nicht. Ich hab auf dich gewartet«, sagte Piet. »Sehnsüchtig gewartet.«
    »So?«, sagte Susann und zog eine Augenbraue hoch.
    »Ja«, sagte Piet. »Wir müssen jetzt nämlich Sex zusammen haben.«
    »Oh? Müssen wir das?«, fragte Susann mit einem koketten Grinsen.
    Es war mindestens zwei Wochen her, dass sie zusammen geschlafen hatten, und Susann hatte es zu frustrieren begonnen, dass Piet keinerlei Anstalten machte, sie zu verführen. Seit Monaten schon ging die Initiative immer von ihr aus. Sie hatte sein mangelndes erotisches Engagement als Indiz für seine aufsteigende Schwermut betrachtet. So schlitzohrig – und heiß obendrein, heiß und geil auf sie – hatte sie ihn schon länger nicht mehr erlebt. Es war ein tolles Gefühl.
    »Ich bin ein bisschen betrunken«, sagte Susann und ging auf ihn zu.
    »Sehr schön«, sagte Piet und erhob sich. »Meine beschwipste kleine Mätresse …«
    Susann kam ihm zwei Schritte entgegen. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und küsste sie. Es war aber nicht der Kuss, den sie erwartet hatte. Kein leidenschaftlicher, ungestümer, lüsterner Kuss. Es war ein zartes, fast flatterhaftes Spiel der Lippen.

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