Die Henkerstochter
fragend zu ihm hinunter.
»Und?«, rief Jakob Kuisl in die metertiefe Grube hinab. Sein Gesicht wurde von einer Fackel erhellt, so dass es wie ein leuchtender Punkt in der sonst absoluten Dunkelheit glühte. »Irgendwelche Höhlen oder Nischen?«
Simon klopfte wenigstens den gröbsten Dreck von seinem Wams. »Nichts! Nicht mal ein Mauseloch.« Noch einmal sah er sich mit der Fackel in der Grube um. Der Lichtschein ließ ihn gerade einmal einige Meter weit sehen, der Rest wurde von der Dunkelheit verschluckt. »Hört ihr mich, Kinder?«, rief er zum wiederholten Mal. »Wenn ihr hier irgendwo seid, dann meldet euch! Alles wird gut. Wir sind auf eurer Seite!«
Nur das Rieseln eines dünnen Rinnsals war irgendwo zu hören, sonst herrschte Stille.
»Verdammt!«, schimpfte Simon. »Was für eine saublöde Idee, mitten in der Nacht in der Lehmgrube nach den Kindern zu suchen! Meine Stiefel sind zwei schmierige Dreckklumpen, und mein Wams kann ich vermutlich wegwerfen!«
Jakob Kuisl grinste, als er den jungen Medicus fluchen hörte.
»Stell dich nicht so an, du weißt selber, dass die Zeit drängt. Lasst uns lieber noch in der Brennerei nachsehen.«
Er hielt die Leiter fest, während Simon über die rutschigen Sprossen nach oben kletterte. Als der Medicus oben ankam, tauchte vor ihm das Gesicht Magdalenas auf. Mit der Fackel leuchtete sie ihm direkt in die Augen.
»Du siehst tatsächlich etwas ... mitgenommen aus«, kicherte sie. »Was musst du auch alle naselang hinfallen?«
Mit dem Zipfel ihrer Schürze wischte sie Simon den Lehm von der Stirn. Ein aussichtsloses Unterfangen. Die Tonerde blieb wie rote Farbe an seinem Gesicht haften. Magdalena lächelte.
»Vielleicht lass ich dir auch ein bisschen von dem Dreck im Gesicht. Schaust sowieso so blass um die Nase aus. «
»Sei still, sonst beginne ich mich zu fragen, warum eigentlich ich in diese verdammte Grube steigen musste.«
»Weil du jung bist und dir ein paar Stürze im Morast nicht schaden. Im Gegenteil«, ertönte die Stimme des Henkers. »Außerdem wirst du wohl kaum ein junges, zartes Mädchen in so ein Drecksloch steigen lassen.«
Jakob Kuisl war bereits zur Brennerei hinübergeschlendert. Das Gebäude stand am Rande einer Rodung, dahinter begann der Wald. Brennholz war zu mannshohen Haufen überall auf der Lichtung aufgeschichtet. Das Haus selbst war aus festem Stein erbaut, ein hoher Kamin ragte in der Mitte des Daches empor. Die Brennerei befand sichgut eine viertel Meile entfernt vom Gerberviertel zwischen Wald und Fluss. Im Westen konnte Simon ab und zu ein Flackern sehen, der Schein von Laternen oder Fackeln, die von der Stadt herüberleuchteten. Ansonsten war um sie herum nichts als Dunkelheit.
Die Ziegelbrennerei war eines der wichtigsten Gebäude Schongaus. Seit ein paar großen Bränden in der Vergangenheit waren die Bürger angehalten, ihre Häuser aus Stein zu bauen und sie nicht mehr mit Stroh, sondern mit Ziegeln zu decken. Auch die Handwerker der Hafner-Gilde holten hier ihren Rohstoff zur Herstellung von Tonwaren und Öfen. Tagsüber lag fast immer dichter Qualm über der Lichtung. Ochsenkarren beförderten die Ziegel auch nach Altenstadt, Peiting oder Rottenbuch, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Doch jetzt in der Nacht war keine Menschenseele anzutreffen, die schwere Tür ins Innere der Brennerei war verschlossen. Jakob Kuisl ging an der Vorderfront entlang, bis er ein Fenster fand, dessen Flügel schief in den Angeln hingen. Mit einem beherzten Ruck riss er den rechten Fensterflügel zur Seite und leuchtete mit der Fackel ins Innere.
»Kinder, ihr braucht’s euch nicht zu fürchten!«, rief er in den dunklen Raum hinein. »Ich bin’s, der Kuisl vom Gerberviertel. Ich weiß, dass ihr mit den Morden nichts zu schaffen habt.«
»Die werden sicher rauskommen, wenn der Henker sie ruft«, zischte Magdalena. »Lasst mich hinein. Vor mir haben sie keine Angst.«
Sie raffte ihren Rock und kletterte über das niedrige Fenstersims ins Innere.
»Eine Fackel«, flüsterte sie.
Schweigend reichte Simon ihr seine Fackel. Dann verschwand sie im Dunkeln. Die Männer hörten anhand derSchritte, wie sie von einem Raum in den anderen schlich. Schließlich war das Knarzen von Stufen zu hören. Magdalena ging die Treppe nach oben.
»Satansbraten, verreckter«, knurrte der Henker und sog an seiner kalten Pfeife. »Sie ist wie ihre Mutter. Genauso störrisch und vorlaut. Wird Zeit, dass sie heiratet und ihr jemand das Maul stopft.«
Der
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