Die Henkerstochter
Geräusch hörte. Der zweite Mann, der gerade eben noch auf der Baustelle umhergegangen war, stand mit einem Mal direkt vor ihm. Er schien genauso überrascht zu sein wie Simon. Der Mann hatte offenbar den Stapel auf der abgewandten Seite nach einem Versteck abgesucht. Jetzt war er um die Ecke gebogen und stolperte förmlich über Simon.
»Was zum Teufel ...? «
Mehr konnte der Mann nicht sagen, denn Simon hatte einen Stock neben sich gepackt und ihm damit die Beine unter dem Leib weggeschlagen. Der Mann kippte zurSeite. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, war Simon über ihm und bearbeitete ihn mit seinen Fäusten. Das Gesicht seines Gegners war bärtig und vernarbt. Die Schläge schienen an ihm abzuprallen wie an Fels. Mit einer plötzlichen Bewegung packte er den Medicus, hielt ihn kurz in die Höhe und schleuderte ihn dann nach vorne. Gleichzeitig holte er mit der rechten Hand zum Schlag aus.
Der Hieb traf Simon seitlich am Kopf, ihm wurde schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, saß der Mann auf seiner Brust und drückte ihm mit beiden Händen langsam die Kehle zu. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem feisten Grinsen. Simon erkannte faulige Zahnstumpen und Bartstoppeln, so rot, braun und schwarz wie ein gemähtes Feld im Oktober. Blut tropfte aus der Nase des Mannes auf ihn herunter. Simon sah plötzlich jede Einzelheit in einer Deutlichkeit wie noch nie zuvor. Vergeblich rang er nach Luft, er spürte, dass es mit ihm zu Ende ging. Gedankenfetzen und Erinnerungen kreisten wild durch seinen Kopf.
Muss ... das Messer ... aus dem Gürtel ziehen.
Er tastete nach seinem Messer, schon hüllte ihn erneut Dunkelheit ein. Endlich fühlte er den Griff. Kurz vor der endgültigen Ohnmacht zog er das Stilett hervor und stach damit zu. Er spürte, wie die Klinge in etwas Weiches glitt.
Ein Schrei holte Simon in die Gegenwart zurück. Er wälzte sich zur Seite und schnappte nach Luft. Neben ihm lag der Bärtige und rieb sich den Oberschenkel. Blut breitete sich auf der Hose aus. Simon hatte ihn am Bein erwischt, doch es war offensichtlich, dass es sich um keine schwere Wunde handelte. Schon blickte der Mann wieder zu ihm herüber und grinste. Er rappelte sich auf, bereit zu einer neuen Attacke. Aus dem Augenwinkel sah er einen Stein am Boden liegen und bückte sich danach. Einen Momentlang hatte er das Gesicht abgewandt, und genau in diesem Augenblick warf sich Simon mit dem Messer auf ihn. Der Mann schrie erstaunt auf. Er hatte damit gerechnet, dass der schmächtige Jüngling versuchen würde zu fliehen, der plötzliche Angriff hatte ihn überrumpelt. Jetzt saß Simon rittlings auf dem breiten Brustkorb seines Gegners, das Messer in der rechten Hand zum Stoß erhoben. Unter ihm füllten sich die Augen des Mannes mit Entsetzen, er setzte zu einem neuen Schrei an. Simon wusste, dass er sofort zustoßen musste, wollte er nicht riskieren, von den anderen Männern gehört zu werden. Er fühlte den Knauf in seiner Hand, das harte Holz, den Schweiß an seinen Fingern. Er spürte, wie sich der Mann unter ihm wand, dem sicheren Tod ins Auge blickend.
Simon bemerkte, dass sein Arm schwer wie Blei wurde. Er ... konnte nicht zustoßen. Er hatte noch nie getötet. Die Schwelle war unüberwindbar.
»Ein Hinterhalt!«, schrie der Mann unter ihm. »Hier hinten bin ich, hier hinter dem Holz ...«
Der Eichenknüppel sauste knapp an Simon vorbei und traf den Mann direkt auf der Stirn. Beim zweiten Hieb platzte der Schädel, Blut und weiße Masse quollen hervor. Das Gesicht verwandelte sich in roten Brei. Eine kräftige Hand zog Simon von der Leiche hinunter.
»Verdammt! Warum hast du ihn nicht totgemacht, bevor er anfing zu schreien? Jetzt wissen die, wo wir sind.«
Der Henker warf den blutigen Stamm zur Seite und zerrte Simon hinter den Holzstapel. Der Medicus konnte nicht antworten. Das Gesicht des Sterbenden hatte sich wie ein Gemälde in sein Gedächtnis gebrannt.
Schon bald waren Stimmen zu hören. Sie kamen näher. »André, warst du das? Was ist geschehen?«
»Wir müssen hier weg«, flüsterte der Henker. »Die sindimmer noch zu viert und wahrscheinlich erfahrene Söldner. Die verstehen sich aufs Kämpfen.« Er packte den halb besinnungslosen Simon und zerrte ihn hinter sich her bis zum Rand des Waldes. Dort ließen sie sich in ein Gebüsch fallen und beobachteten den Fortgang des Geschehens.
Schon nach kurzer Zeit hatten die Männer die Leiche gefunden. Rufe wurden laut, jemand schrie. Dann schwärmten die
Weitere Kostenlose Bücher