Die Henkerstochter
auf und warf ihn hinter die Kirchenmauern. Der Stein prallte gegen das Mauerwerk und verursachte ein klirrendes Geräusch.
Simon sah, wie die Wachen mit dem Trinken innehielten und miteinander flüsterten. Dann stand einer von ihnen auf, nahm sein Schwert und ging um das Mauerfundament herum. Nach zwanzig Schritten war er außer Sichtweite seines Kollegen.
Wie ein schwarzer Schatten warf sich der Henker auf ihn. Simon hörte einen dumpfen Schlag, ein kurzes Stöhnen, dann kehrte wieder Ruhe ein.
In der Dunkelheit konnte Simon jetzt nur noch die Umrisse des Henkers ausmachen. Jakob Kuisl kauerte hinter dem Mäuerchen, bis der zweite Wachmann anfing unruhig zu werden. Nach einer Weile fing der Büttel an, erst leiser, dann immer lauter nach seinem vermissten Freund zu rufen. Als keine Antwort kam, stand der Wachmann auf, griff sich seinen Spieß und die Laterne und ging vorsichtig um die Kirchenmauer herum. Als er einen Busch passierte, sah Simon die Laterne kurz aufflackern und dann jäh erlöschen. Kurze Zeit später trat der Henker hinter dem Busch hervor und winkte Simon zu sich hinüber.
»Schnell, wir müssen sie fesseln und knebeln, bevor siewieder zu sich kommen«, flüsterte er, als Simon bei ihm anlangte. Jakob Kuisl grinste wie nach einem gelungenen Bubenstreich. Aus einem mitgebrachten Sack zog er eine Seilrolle hervor.
»Ich bin sicher, sie haben mich nicht erkannt«, sagte er. »Morgen werden sie dem Lechner von ganzen Horden von Söldnern erzählen und davon, wie heldenhaft sie gekämpft haben. Vielleicht sollte ich ihnen zum Beweis noch ein paar zusätzliche Hiebe verpassen.«
Er warf Simon ein Stück Seil zu. Gemeinsam fesselten sie die beiden ohnmächtigen Büttel. Derjenige, den der Henker als Erstes niedergeschlagen hatte, blutete ein wenig am Hinterkopf. Dem anderen wuchs bereits eine stattliche Beule an der Stirn. Simon prüfte Herzschlag und Atem. Beide lebten. Erleichtert fuhr der Medicus mit seiner Arbeit fort.
Zuletzt knebelten sie die beiden Wachen noch mit abgerissenen Leinenfetzen und trugen sie hinter den Holzstapel.
»So können sie uns nicht sehen, auch wenn sie wieder aufwachen sollten«, sagte Jakob Kuisl und ging bereits hinüber zum Brunnen. Simon zögerte. Er eilte zurück zum Lager der Wachen, holte zwei warme Decken und breitete sie über den bewusstlosen Bütteln aus. Dann lief er dem Henker nach. Das hier war Notwehr! Sollte es je zu einem Prozess kommen, würde sich seine Fürsorge hoffentlich strafmildernd auswirken.
Der Mond war bereits aufgegangen und hüllte die Baustelle in ein bläuliches Licht. Das kleine Feuer der Wachen glimmte nur noch ein wenig. Es herrschte völlige Stille. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern. Über dem Brunnen stand ein morsches Holzgerüst, an dem früher mal eine Kette mit Eimer gehangen haben musste. Einpaar aufgehäufte Steine dienten als Tritte, damit man besser über den Rand klettern konnte. Jakob Kuisl hielt seine Fackel an den Balken, der quer über den Schacht ragte.
»Hier, frische Kratzspuren«, murmelte er und fuhr mit dem Finger am Balken entlang. »An manchen Stellen schaut das helle Holz unter der morschen Oberfläche hervor.«
Er blickte nach unten in die Tiefe und nickte.
»Die Kinder haben ein Tau über den Balken geworfen und sich abgeseilt.«
»Und warum hängt jetzt dort kein Tau, wenn sie unten sind?«, fragte Simon.
Der Henker zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hat die Sophie das Seil mit nach unten genommen, damit keiner Verdacht schöpft. Um wieder hochzukommen, muss sie es von unten über den Balken werfen. Nicht gerade einfach, aber der Sophie traue ich das zu. «
Simon nickte.
»So ist sie vermutlich herausgekommen, als sie mich im Wald aufgesucht hat, um mir von Clara zu erzählen«, sagte er und blickte in die Tiefe. Das Loch war schwarz wie die Nacht, die sie umgab. Er warf ein paar Steine nach unten und hörte sie aufschlagen.
»Bist narrisch? «, fluchte der Henker. »Jetzt wissen die da unten sicher, dass wir kommen!«
Simon stotterte: »Ich ... ich wollte nur sehen, wie tief der Brunnen ist. Je tiefer der Brunnen, umso länger braucht der Stein, um auf dem Boden aufzuschlagen. Und aus der Zeit zwischen ... «
»Trottel«, unterbrach ihn der Henker. »Der Brunnen kann nicht tiefer als zehn Schritt sein. Sonst hätte die Sophie das Seil nimmermehr hinaufwerfen können, um dich im Wald zu besuchen.«
Einmal mehr war Simon von der einfachen und doch zwingenden Logik des
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