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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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ihnen früher Kerzen oder Öllampen gestanden. Die Nischen gaben Simon die Möglichkeit, die Länge des Ganges zu ermessen. Trotzdem hatte er schon nach wenigen Minuten jegliches Gefühl für Zeit verloren.
    Über ihnen lagen Tonnen von Fels und Erde. Kurz dachte der Medicus daran, was passieren würde, wenn der nasse Lehm über ihm plötzlich einbräche. Ob er noch etwas spüren würde? Würde ihm der Fels gnädig das Genick brechen oder würde er langsam ersticken? Als ermerkte, dass sein Herz zu rasen anfing, versuchte er sein Denken auf etwas Schönes zu richten. Er dachte an Magdalena, ihr schwarzes Haar, die dunklen, lachenden Augen, ihre vollen Lippen ... Deutlich sah er ihr Gesicht vor sich, fast zum Greifen nah. Jetzt veränderte sich ihre Miene, sie schien ihm etwas zurufen zu wollen. Ihr Mund öffnete und schloss sich lautlos; in ihren Augen funkelte nackte Angst. Als sie sich ihm ganz zuwandte, zerplatzte der Tagtraum wie eine Seifenblase. Der Gang machte plötzlich eine Biegung und öffnete sich zu einer mannshohen Kammer.
    Vor ihm richtete sich der Henker auf und leuchtete mit der Laterne den Raum ab. Notdürftig klopfte sich Simon den Dreck von der Hose, dann blickte auch er sich um.
    Die Kammer war annähernd quadratisch und ungefähr drei Schritt breit und lang. An den Seiten gab es kleine Nischen und Stufen, fast wie Regale. Auf der gegenüberliegenden Seite führten zwei weitere Tunnel leicht abschüssig in die Tiefe. Auch sie hatten die ovale Form, die Simon bereits vom ersten Eingang her kannte. In der linken Ecke der Kammer lehnte eine Leiter, die zu einem Loch in der Decke führte. Jakob Kuisl beäugte die Leiter mit seiner Laterne. Im blassen Schein des Lichts sah Simon grünliche, vermoderte Sprossen. Zwei von ihnen waren komplett zersplittert. Simon fragte sich, ob die Leiter überhaupt noch jemanden tragen konnte.
    »Die steht bestimmt schon seit Urzeiten hier unten«, sagte Jakob Kuisl und klopfte prüfend auf das Holz. »Hundert, zweihundert Jahre vielleicht ...? Weiß der Teufel, wo sie hinführt. Ich glaube, das Ganze hier ist ein gottverdammtes Labyrinth. Wir sollten nach den Kindern rufen. Wenn sie schlau sind, dann antworten sie uns, und das Versteckspiel hat endlich ein Ende.«
    »Und wenn uns ... jemand anderes hört?«, fragte Simon ängstlich.
    »Pah, wer schon? Wir sind so tief in der Erde, dass ich fast froh wäre, wenn unsere Schreie nach außen dringen würden.« Der Henker grinste. »Vielleicht werden wir ja verschüttet und brauchen Hilfe. Schaut alles nicht so stabil aus, besonders der schmale Tunnel am Eingang ... «
    »Ich bitte Euch, Kuisl. Darüber macht man keine Witze.«
    Wieder spürte Simon die Tonnen von Erde über ihren Köpfen. Währenddessen leuchtete der Henker in den gegenüberliegenden Eingang. Dann rief er in die Dunkelheit.
    »Kinder, ich bin es, der Kuisl Jakob! Ihr habt nichts zu befürchten! Wir wissen jetzt, wer euch schaden will. Bei uns seid ihr in Sicherheit. Also kommt raus, seid’s so lieb!«
    Seine Stimme klang so merkwürdig hohl und leise, als würde der Lehm um sie herum die Worte aufsaugen wie Wasser. Keine Antwort kam. Kuisl versuchte es noch einmal.
    »Kinder! Hört ihr mich? Alles wird gut! Ich verspreche, dass ich euch heil hier herausbringe. Und jeder, der euch ein Härchen krümmt, dem brech ich sämtliche Knochen.«
    Immer noch keine Antwort. Nur das leise Tröpfeln eines Rinnsals war von irgendwo zu hören. Plötzlich schlug der Henker mit der flachen Hand gegen die Lehmwand, sodass sich ganze Brocken lösten.
    »Kruzifix, jetzt rührt euch endlich, ihr vermaledeite Saubande! Oder ich versohl euch den Arsch, dass ihr drei Tage nicht mehr laufen könnt!«
    »Ich glaube nicht, dass das der Ton ist, der sie dazu bewegt rauszukommen«, meinte Simon. »Vielleicht solltet Ihr...«
    »Psst. « Jakob Kuisl legte den Finger an den Mund und deutete zum gegenüberliegenden Eingang. Ein leises Wimmern ertönte. Sehr schwach. Simon schloss die Augen, um zu orten, woher es kam. Es gelang ihm nicht. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es eher von oben oder von der Seite her zu ihnen drang. Es war, als würde die Stimme durch die Erde geistern.
    Auch der Henker schien seine Schwierigkeiten zu haben. Er blickte mehrmals nach oben und zur Seite. Dann zuckte er mit den Schultern.
    »Wir werden uns aufteilen müssen. Ich steig die Leiter hinauf, du gehst einen der Tunnel weiter. Wer sie findet, ruft laut.«
    »Und wenn wir sie nicht finden?«,

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