Die Henkerstochter
wichtiger, dass wir jetzt schnell handeln. Des Rätsels Lösung liegt dort unten im Brunnen. Vielleicht finde ich dort auch einen Hinweis auf meine kleine Magdalena ... «
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Nur das Zwitschern der Vögel und das gelegentliche Gelächter der Wachen war zu hören. Simon merkte, dass er ob der ganzen Aufregung der letzten Stunde für einen kurzen Augenblick Magdalena vergessen hatte. Er schämte sich.
»Glaubt Ihr, dass ... «, begann er und merkte, wie seine Stimme brach.
Der Henker schüttelte den Kopf.
»Der Teufel hat sie entführt, aber er hat sie nicht totgemacht. Er braucht sie als Pfand, damit ich ihm das Versteck der Kinder zeige. Außerdem ist das nicht seine Art. Er will erst seinen ... Spaß, bevor er tötet. Er spielt gerne.«
»Das klingt, als ob Ihr den Teufel besser kennt«, sagte Simon.
Jakob Kuisl nickte.
»Ich glaub, ich kenne ihn. Mag sein, dass ich ihn schon mal gesehen hab. «
Simon sprang auf.
»Wo? Hier in der Gegend? Wisst Ihr, wer er ist? Wenn das so ist, warum sagt Ihr es nicht dem Rat, damit er den Schurken einsperren lässt?«
Jakob Kuisl wischte Simons Fragen mit einer Handbewegung fort, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. »Bist deppert, oder was? Nicht hier! Früher. Das ist …
schon lange her. Ich kann mich aber auch täuschen.« »Dann sprecht! Vielleicht hilft uns das ja weiter!« Der Henker schüttelte abrupt den Kopf.
»Das führt zu nichts.« Er ließ sich ins Moos fallen und zog an seiner kalten Pfeife. »Lass uns lieber noch ein wenig ausruhen, bis die Dämmerung kommt. Es wird eine lange Nacht werden.«
Mit diesen Worten schloss der Henker die Augen, er schien sofort einzuschlafen. Simon beobachtete ihn fastneidisch. Wie konnte dieser Mann nur so ruhig bleiben! Für ihn selbst war an Schlaf nicht zu denken. Unruhig und mit flatterndem Herzen wartete er die Nacht ab.
Sophie lehnte ihren Kopf an den nassen Stein und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie wusste, dass sie beide nicht mehr lange hier unten bleiben konnten. Die Luft wurde knapp, sie merkte, wie sie mit jeder Stunde müder wurde. Jeder Atemzug schmeckte schwül und verbraucht. Seit Tagen hatte sie nicht mehr nach oben gehen können, ihre Notdurft hatte sie in einer Nische nebenan verrichtet. Es stank nach Fäkalien und verdorbenem Essen.
Sophie blickte zur schlafenden Clara hinüber. Ihr Atem wurde schwächer und schwächer, sie sah aus wie ein todkrankes Tier, das sich zum Sterben in eine Höhle verkrochen hatte. Bleich, eingefallen, mit Ringen unter den Augen. An den Schultern und am Brustkorb traten die Knochen hervor. Sophie wusste, dass ihre kleine Freundin Hilfe brauchte. Der Trank, den sie ihr vor fast vier Tagen eingeflößt hatte, hatte sie zwar schlafen lassen, doch das Fieber war noch nicht ausgestanden. Außerdem war Claras rechter Knöchel mittlerweile auf die dreifache Größe angeschwollen. Sophie konnte förmlich sehen, wie es darunter pumpte und kämpfte. Das gesamte Bein war bis hinauf zum Knie blau angelaufen. Die notdürftigen Umschläge hatten nicht viel geholfen.
Schon dreimal war Sophie in den Schacht gekrochen, um zu überprüfen, ob die Luft rein war. Aber jedes Mal, wenn sie nachsah, waren die Stimmen von Männern zu hören. Gelächter, Gemurmel, Schreie, Schritte ... Irgendetwas ging dort oben vor, die Männer ließen sie nicht mehr in Ruhe, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. AberGott sei Dank hatten sie das Versteck noch nicht entdeckt. Sophie blickte in die Dunkelheit. Eine halbe Talgkerze war ihnen noch geblieben. Um Licht zu sparen, hatte sie den Stummel seit gestern Mittag nicht mehr angezündet. Wenn sie die Schwärze nicht mehr aushielt, kroch sie vor zum Schacht und blickte nach oben in den Himmel. Aber bald tat ihr das Sonnenlicht in den Augen weh und sie musste zurückkriechen.
Clara machte die Dunkelheit nichts aus. Sie dämmerte dahin, und wenn sie kurz aufwachte und nach Wasser verlangte, drückte ihr Sophie die Hand und streichelte sie, bis sie wieder in den Schlaf sank. Manchmal sang Sophie Lieder für sie, die sie auf der Straße gelernt hatte. Manchmal fielen ihr noch Verse ein, die ihre Eltern für sie gesungen hatten, bevor sie starben. Aber es waren nur noch Fetzen, Fragmente aus der Vergangenheit verbunden mit der Ahnung eines freundlichen Gesichts oder eines Lachens.
Eia beia Wiegele, auf dem Dach sind Ziegele, auf dem Dach sind Schindelein, behüt mir Gott mein Kindelein …
Sophie
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