Die Henkerstochter
Henkers beeindruckt. Jakob Kuisl hatte unterdessen ein weiteres Seil aus seinem Sack geholt und begonnen, es um den Balken zu knoten.
»Ich werde mich als Erstes hinunterlassen«, sagte er. »Wenn ich unten was sehe, wink ich mit der Laterne, und du kommst nach.«
Simon nickte. Der Henker prüfte noch einmal die Festigkeit des Balkens, indem er fest am Seil zog. Der Balken ächzte, aber er hielt. Kuisl band sich die Laterne an den Gürtel, packte das Tau mit beiden Händen und ließ sich in die Tiefe gleiten.
Schon nach wenigen Metern hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Nur ein Lichtpunkt zeugte davon, dass dort unten ein Mensch am Seil baumelte. Der Lichtpunkt sank tiefer und tiefer und blieb plötzlich stehen. Dann zuckte das Licht hin und her. Der Henker winkte mit der Laterne.
Simon atmete noch einmal tief durch. Auch er band seine Laterne am Gürtel fest, dann packte er das Tau und kletterte hinunter. Es roch nass und muffig. Dicht vor seinen Augen rieselte lehmige Erde zu Boden. Lehm, wie sie ihn unter den Fingernägeln der Kinder gefunden hatten …
Schon nach wenigen Metern merkte er, dass der Henker recht gehabt hatte. Nach ungefähr zehn Schritt war der Boden zu sehen. Einige Pfützen Wasser schimmerten im Licht der Laternen, ansonsten war der Schacht trocken. Als Simon unten anlangte, merkte er auch, warum. An einer Seite des Schachts befand sich ein kniehohes, halbovales Loch, das Simon an den Torbogen zu einer Kapelle erinnerte. Es sah aus, als wäre es von Menschen in den lehmigen Grund gegraben worden. Dahinter begann ein niedriger Schacht. Neben dem Loch stand der Henker und grinste. Mit der Laterne wies er auf den Eingang.
»Ein Schrazelloch«, flüsterte er. »Wer hätte das gedacht? Ich habe nicht gewusst, dass es hier in der Gegend überhaupt welche gibt.«
»Ein was?«, fragte Simon.
»Ein Erdstall. Manchmal sprechen die Leute auch von einem Zwergenloch oder einer Alraunenhöhle. Ich habe in meiner Zeit im Krieg viele von ihnen gesehen. Darin haben sich die Bauern versteckt, wenn die Soldaten kamen. Manchmal sind sie tagelang nicht rausgekommen.« Der Henker leuchtete mit der Fackel in den dunklen Tunnel.
»Die Höhlen sind von Menschen gemacht«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Sie sind uralt, und keiner weiß, für was sie einst gedient haben. Manche glauben, dass sie als Versteck gebaut wurden. Mein Großvater hat mir aber erzählt, dass die Seelen der Toten hier ihre letzte Ruhe finden sollten. Andere sagen, die Zwerge selbst hätten sie gebaut.«
Simon sah sich das halbrunde Oval genauer an. Es sah tatsächlich aus wie der Eingang zu einer Zwergenhöhle. Oder wie das Tor zur Hölle …
Simon räusperte sich. »Der Pfarrer sprach davon, dass sich hier früher Hexen und Zauberer getroffen haben sollen. Ein heidnischer Platz für ihre unheilvollen Feste. Könnte das mit diesem ... Schrazelloch zusammenhängen?«
»So oder so«, sagte Jakob Kuisl und ließ sich auf die Knie hinabsinken. »Wir müssen hier hinein. Also los. «
Simon schloss kurz die Augen und murmelte ein Stoßgebet zum Himmel, der wolkenverhangen zehn Schritt über ihnen war. Dann kroch er hinter dem Henker in den engen Tunnel.
Oben am Brunnenrand hielt der Teufel seine Nase in den Wind. Es roch nach Rache und Vergeltung. Er wartetenoch einen Moment, bevor er sich an dem Seil in die Tiefe gleiten ließ.
Gleich nachdem Simon den Eingang passiert hatte, merkte er , dass dies kein gemütlicher Spaziergang werden würde. Schon nach wenigen Metern verengte sich der Tunnel. Um voranzukommen, mussten sie an einer Stelle beinahe seitlich auf der Schulter robben. Simon spürte, wie ihm scharfkantige Steine über Gesicht und Körper schrammten. Danach wurde der Gang ein wenig breiter, allerdings nicht viel. Gebückt stolperte Simon Meter für Meter nach vorne, in der einen Hand die Laterne, die andere seitlich an die nasse Lehmwand gestützt. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, wie seine Hose und sein Wams jetzt aussehen mussten. Doch in der Dunkelheit war davon sowieso nichts zu erkennen.
Seine einzige Orientierung war die flackernde Laterne des Henkers vor ihm. Jakob Kuisl hatte sichtlich Mühe, seinen muskulösen, breiten Körper durch dieses Nadelöhr zu schieben. Immer wieder rieselte Erde von der Decke und fiel ihm in den Kragen. Die Decke war gekrümmt wie bei einem Bergmannsschacht. In regelmäßigen Abständen tauchten handgroße, verrußte Nischen an den Wänden auf. Sie sahen aus, als wären in
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