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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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spürte, wie ihre Wangen nass wurden. Clara hatte es trotz allem gut. Sie hatte eine Familie gefunden, die sie liebte. Andererseits, was nützte ihr das jetzt? Sie verröchelte in einem Felsenloch, so nah und doch so fern von den Lieben zu Hause.
    Mit der Zeit hatten sich Sophies Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Nicht dass sie sehen konnte, aber sie unterschied helles Dunkel und dunkles Dunkel. Sie schlug sich nicht mehr den Kopf an, wenn sie durch die Gänge stolperte, und sie sah, wenn links oder rechts ein Gang abzweigte. Einmal vor drei Tagen war sie ohne Kerze an einer Stelle falsch abgebogen und nach wenigen Schritten gegen eine Wand gerannt. Kurz hatte sie eine ungeheure Angst gepackt, nicht mehr zurückzufinden. Ihr Herzschlug wie wild, sie drehte sich im Kreis und tappte mit den Händen ins Leere. Aber dann hörte sie das Wimmern von Clara. Sie war den Tönen nachgegangen und hatte so wieder zurückgefunden.
    Nach diesem Erlebnis hatte sie den Saum ihres Kleids aufgetrennt und den Wollfaden von ihrer Nische bis zum Brunnen gelegt. Unter ihren bloßen Füßen konnte sie jetzt immer den rauen Faden spüren, wenn sie zum Schacht tappte.
    So verliefen ihre Tage und Nächte. Sophie fütterte Clara, sang sie in den Schlaf, starrte in die Dunkelheit und verlor sich in Gedanken. Ab und zu kroch sie ins Licht, auch um Luft zu schnappen. Kurz hatte sie überlegt, Clara bis zum Schacht zu schleppen, damit auch sie Luft und Licht bekäme. Aber erstens war das Mädchen trotz seiner beängstigenden Magerkeit zum Tragen doch zu schwer, und zweitens hätte Claras immer wiederkehrendes Wimmern die Männer über ihnen auf ihr Versteck aufmerksam gemacht. Der laute Schrei gestern hatte sie beinahe verraten. Also mussten sie hier in der Nische bleiben, tief unter der Erde.
    Sophie hatte sich schon oft gefragt, was diese Gänge, die sie gemeinsam beim Spielen im Wald gefunden hatten, früher einmal gewesen waren. Verstecke? Versammlungsorte? Oder waren sie am Ende gar nicht von Menschen erbaut, sondern von Zwergen und Gnomen? Manchmal hörte sie ein Wispern, so als ob kleine, böse Wesen sich über sie lustig machten. Aber dann war es doch nur der Wind, der durch irgendwelche fernen Felsspalten pfiff.
    Auch jetzt ertönte wieder ein Geräusch. Es war kein Wispern, sondern Steine, die in der Tiefe aufschlugen. Steine, die vom Brunnenrand gefallen waren …
    Sophie stockte der Atem, jetzt waren flüsternde Stimmenzu hören. Jemand fluchte. Die Stimmen kamen nicht wie sonst von oben, sie ertönten ganz nah, wie vom Boden des Brunnens.
    Instinktiv zog Sophie den Wollfaden ein, bis sie das Ende in ihrer Hand spürte. Vielleicht würden sie nicht mehr hinausfinden. Wichtiger aber war momentan, dass die Männer, die sie hörte, nicht zu ihnen hereinfanden. Sie zog die Beine an den Körper und drückte die Hand von Clara. Dann wartete sie.
     
    Als die Dämmerung angebrochen war, erhob sich der Henker von seinem Mooslager und blickte durch die Zweige hinüber zu den beiden Wachen.
    »Wir werden sie fesseln müssen, alles andere ist zu gefährlich«, flüsterte er. »Der Mond scheint hell, und der Brunnen liegt genau in der Mitte der Rodung, von überall gut einzusehen. Wie ein nackter Arsch auf dem Friedhof.«
    »Aber ... wie wollt Ihr mit ihnen fertig werden?«, stammelte Simon. »Sie sind immerhin zu zweit.«
    Der Henker grinste.
    »Wir doch auch.«
    Simon stöhnte. »Kuisl, lasst mich da aus dem Spiel. Ich habe schon beim letzten Mal keine gute Figur gemacht. Ich bin Arzt, kein Wegelagerer. Gut möglich, dass ich’s wieder verpatz.«
    »Da magst du recht haben«, sagte Jakob Kuisl und blickte weiter zu den Wachen hinüber, die ein kleines Feuer neben den Kirchenmauern angezündet hatten und eine Flasche Branntwein kreisen ließen. Schließlich wendete er sich wieder Simon zu. »Gut, bleib hier und rühr dich nicht. Ich bin gleich wieder da. «
    Er löste sich aus dem Gebüsch und robbte durch die hohe Wiese Richtung Baustelle.
    »Kuisl!«, flüsterte Simon ihm hinterher. »Tut ihnen nicht weh, ja?«
    Der Henker drehte sich noch einmal um und lächelte grimmig. Er zog einen kleinen Knüppel aus poliertem Lärchenholz unter seinem Mantel hervor.
    »Sie werden einen sauberen Brummschädel bekommen. Aber den kriegen sie auch, wenn sie weiter so saufen. Also kommt’s aufs Gleiche raus.«
    Er schlich weiter, bis er zu dem Holzstapel gelangte, hinter dem sich letzte Nacht Simon versteckt hatte. Dort klaubte er einen faustgroßen Stein

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