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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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glimmenden Fasern die Laterne neu entzünden wollte, spürte er einen Luftzug von hinten. Der Schatten fiel über sie her.
    Bevor die Laterne ein zweites Mal ausging, sah Simon im verlöschenden Licht noch eine Hand herabfahren. Dann überrollte ihn die Dunkelheit.
     
    Der Henker war in der Zwischenzeit durch zwei weitere Kammern gekommen, ohne eine Spur von den Kindern zu finden. Der Raum, den er mit der Leiter erreicht hatte, war leer gewesen. Am Boden lagen die Scherben eines alten Krugs und ein paar vermoderte Fassdauben. In den Ecken befanden sich glatt gescheuerte, steinerne Sitznischen, die aussahen, als hätten schon Hunderte von Menschen sich ängstlich in sie gekauert. Auch aus dieser Kammer führten zwei Tunnel weiter in die Dunkelheit.
    Jakob Kuisl fluchte. Dieses Schrazelloch war tatsächlich ein verdammtes Labyrinth! Gut möglich, dass es sich unterirdisch bis hinüber zu den Kirchenmauern erstreckte. Vielleicht hatte der Pfarrer mit seinen Spukgeschichten ja doch recht. Welche geheimen Riten mochten hier unten wohl stattgefunden haben? Wie viele Horden von Barbaren und Soldaten waren schon darüber hinweggezogen, während tief in der Erde Männer, Frauen und Kinder ängstlich den Schritten und Stimmen der Eroberer lauschten? Sie würden es nie erfahren.
    Über dem Eingang zum linken Tunnel befanden sich einigeZeichen, die Jakob Kuisl nicht deuten konnte. Striche, geschwungene Linien und Kreuze, die natürlichen oder menschlichen Ursprungs sein konnten. Auch hier war der Durchschlupf so schmal, dass man sich förmlich durchschieben musste. Sollte etwas an den Geschichten dran sein, die ihm vor bald dreißig Jahren eine alte Hebamme erzählt hatte? Dass nämlich die Durchlässe absichtlich so eng gebaut wurden, damit der Körper alles Schlechte, alle Krankheiten, alle bösen Gedanken an die Mutter Erde abgeben konnte?
    Er zwängte sich durch das enge Loch und befand sich in der nächsten Kammer. Sie war die größte bislang. Der Henker konnte aufrecht stehen, bis zum anderen Ende waren es gut und gern vier Schritt. Ein enger Gang führte von dort geradeaus weiter; direkt über Jakob Kuisl befand sich ein weiteres Loch. Fahlgelbe, fingerdicke Wurzeln wuchsen aus dem schmalen Schacht bis zu ihm herunter und streiften über sein Gesicht. Ganz weit oben meinte der Henker einen winzigen Lichtschein zu sehen. Mondlicht? Oder nur ein Trugbild seiner Augen, die sich nach Helligkeit sehnten? Er versuchte sich auszurechnen, wie weit er sich mittlerweile vom Brunnen wegbewegt hatte. Gut möglich, dass er direkt unter der Linde in der Mitte der Lichtung stand. Die Linde galt seit alters her als heiliger Baum, das gewaltige Exemplar auf der Baustelle war bestimmt einige hundert Jahre alt. Hatte früher ein Schacht vom Stamm der Linde bis hierher in die Ruhestätte der Seelen geführt?
    Jakob Kuisl zog probeweise an den Wurzeln; sie schienen zäh zu sein und ein gewisses Gewicht zu tragen. Kurz überlegte er, sich daran hochzuziehen, um zu überprüfen, ob sie tatsächlich zur Linde gehörten. Aber dann entschied er sich doch dafür, den horizontalen Gang zu nehmen.Sollte er dahinter nichts finden, würde er umkehren. In Gedanken hatte er immer weiter gezählt. Die Zahl 500, die er mit Simon vereinbart hatte, war bald erreicht.
    Er bückte sich und kroch in den engen Tunnel hinein. Dies war der bislang schmalste Gang. Lehm und Steine schabten an seinen Schultern. Sein Mund war trocken, er schmeckte Staub und Dreck. Er hatte den Eindruck, dass der Tunnel trichterförmig zulief. Eine Sackgasse? Er wollte schon zurückkriechen, als er im Licht der Laterne sah, dass der Gang sich nach einigen Meter wieder weitete. Mühsam schob er sich das letzte Stück nach vorne. Wie ein Korken, der aus der Flasche gezogen wird, landete er schließlich in einer weiteren Kammer.
    Der Raum war so niedrig, dass er nur gebückt darin stehen konnte; er endete bereits nach zwei Schritten an einer feuchten, lehmigen Wand. Einen weiteren Durchlass gab es nicht. Dies war eindeutig das Ende des Labyrinths. Er würde umkehren müssen.
    Als er sich zu dem schmalen Schlupfloch herumdrehte, sah er aus den Augenwinkeln etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte.
    An die linke Seite der Kammer hatte jemand in Brusthöhe etwas in den Lehm gekratzt. Diesmal waren es keine simplen Striche oder Krakeleien wie vorher über dem Torbogen. Es war eine Inschrift, und sie schien recht frisch zu sein.
    F. S. hic erat XII. Octobris, MDCXLVI.
    Jakob Kuisl stockte

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