Die Henkerstochter
Zähne, hievte seinen Körper in die Höhe und war im Begriff sich durch den Gang nach oben zu schieben, als ihm etwas auffiel.
Der Gang ging leicht abwärts.
Aber wie konnte das sein? Er war doch nach unten in die Kammer gefallen. Der Gang musste daher aufsteigen! Oder es war ein anderer Gang?
Mit Entsetzen stellte Simon fest, dass er sich verirrt hatte. Gerade wollte er sich wieder in die Kammer gleiten lassen, um den richtigen Gang zu suchen, als er ein Geräusch hörte.
Ein Wimmern.
Es drang aus dem Tunnel vor ihm, der nach unten führte, und es war ganz nah.
Die Kinder! Dort unten waren die Kinder!
»Sophie! Clara! Hört ihr mich? Ich bin’s, der Simon!«, rief er hinunter.
Das Weinen hörte auf. Dafür ertönte Sophies Stimme. »Bist du’s auch wirklich, Simon? «
Erleichterung machte sich in Simon breit. Wenigstens hatte er die Kinder gefunden! Vielleicht war der Henker schon bei ihnen? Natürlich! Er hatte in der oberen Kammer nichts gefunden. Dann war er wieder nach unten gestiegen und hatte den zweiten Tunnel genommen. Und jetzt stand er da unten bei den Kindern und spielte ihm einen Streich!
»Ist der Kuisl bei euch da unten?«, fragte er.
»Nein.«
»Wirklich nicht? Ihr müsst’s mir sagen, Kinder. Das ist jetzt kein Spiel mehr!«
»Bei der Heiligen Jungfrau Maria, nein!«, erklang Sophies Stimme von unten. »O Gott, ich hab so Angst! Ich habe Schritte gehört, und ich kann doch nicht weg, wegen der Clara ... «
Ihre Stimme ging in Weinen unter.
»Sophie, du brauchst keine Angst zu haben«, versuchte Simon sie zu beruhigen. »Die Schritte waren bestimmt von uns. Wir holen euch hier raus. Was ist mit der Clara?«
»Sie ... sie ist krank. Sie hat Fieber und kann nicht laufen.«
Na wunderbar, dachte Simon. Meine Laterne ist aus, ich habe mich verlaufen, der Henker ist verschwunden, und jetzt muss ich auch noch ein Kind hier raustragen! Kurz überkam ihn der Wunsch, genauso zu weinen wie Sophie, aber dann riss er sich zusammen.
»Wir ... wir schaffen das schon, Sophie. Ganz sicher. Ich komm jetzt runter zu dir.«
Er nahm die Laterne zwischen die Zähne und rutschte den Gang hinunter. Diesmal war er auf den Sturz vorbereitet. Er fiel nur einen halben Meter tief und landete fast sanft in einer Pfütze aus eiskaltem, lehmigem Wasser.
»Simon? «
Sophies Stimme kam von links. Er glaubte, ihren Schemen im Dunkeln zu sehen. Eine etwas schwärzere Stelle, die sich langsam hin und her zu bewegen schien. Simon winkte. Dann fiel ihm erst ein, wie unsinnig das in der Dunkelheit war.
»Hier bin ich, Sophie. Wo ist Clara? «, flüsterte er. »Die liegt neben mir. Was ist mit den Männern?« »Welche Männer?« Während Simon sprach, kroch erauf den Schemen zu. Er spürte eine steinerne Stufe, darauf Moos und Stroh.
»Nun, die Männer, die ich oben gehört habe. Sind sie noch da?«
Simon tastete sich die Stufe hoch. Sie war so lang und breit wie ein Bett. Er fühlte den hingestreckten Körper eines Kindes. Kalte Haut, kleine Zehen, Lumpen an den Beinen.
»Nein«, antwortete er. »Die ... sind weg. Ihr könnt ohne Gefahr rauskommen.«
Sophies Schemen war jetzt ganz nah neben ihm. Er griff danach. Er spürte ein Kleid. Eine Hand griff nach ihm und drückte ihn fest.
»O Gott, Simon! Ich habe solche Angst!«
Simon umarmte den kleinen Körper und streichelte ihn. »Es wird alles gut. Alles wird gut. Wir müssen jetzt nur noch ... «
Hinter ihm war ein Schaben zu hören. Etwas schob sich langsam durch die Öffnung in die Kammer.
»Simon!«, rief Sophie. »Da ist etwas! Ich kann es sehen. Oh, Gott, ich kann es sehen!«
Simon drehte sich um. An einer Stelle nicht weit von ihnen entfernt war die Schwärze dunkler als der Rest. Und diese Schwärze kam auf sie zu.
»Hast du Licht hier?«, brüllte Simon. »Eine Kerze? Irgendetwas?«
»Ich ... ich habe Zunder und Feuerstein. Es muss hier irgendwo liegen ... Um Himmels willen, Simon! Was … was ist das?«
»Sophie, wo ist der Zunder? Antworte!«
Sophie fing zu schreien an. Simon verpasste ihr eine Ohrfeige.
»Wo ist der Zunder?«, rief er noch einmal in die Schwärze.
Die Ohrfeige half. Sophie wurde augenblicklich still. Sie tastete kurz herum, dann reichte sie ihm ein faseriges Stück Schwamm und einen kühlen Feuerstein. Simon zog sein Stilett aus dem Gürtel und schlug wie wild den Stein gegen den kalten Stahl. Funken schlugen. Der Zunderschwamm fing zu glimmen an. Eine winzige Flamme flackerte in seiner Hand. Doch gerade als er mit den
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