Die Henkerstochter
Letzter die Fahrt in die Höhe an.
Oben angekommen blickte Simon sich um. Er brauchte eine Zeit, um sich zu orientieren. Um ihn herum ragten die Mauern der neuen Kapelle auf. Der Schacht befand sich unter einer verwitterten Steinplatte direkt in der Mitte. Die Arbeiter mussten ein altes Fundament für den Boden benutzt haben. Der Medicus blickte noch einmal in die Tiefe. Gut möglich, dass an dieser Stelle schon früher eine Kirche oder ein anderes heiliges Bauwerk gestanden hatte, das durch einen Gang mit der Unterwelt verbunden gewesen war. Bei den jetzigen Arbeiten war den Handwerkern die Platte offenbar nicht weiter aufgefallen.
Kurz durchlief den Medicus ein Frösteln. Ein uralter Schacht in die Hölle ... Und unten wartete der Teufel selbst auf die armen Sünder.
Weiter hinten sah Simon die beiden Wachen von letzter Nacht auf einem Mauerstück sitzen. Einer trug einen Verband um die Stirn und rieb sich benommen den Kopf. Der andere machte trotz eines gewaltigen Veilchens um das rechte Auge einen verhältnismäßig wachen Eindruck. Unwillkürlich musste Simon grinsen. Der Henker hatte ganze Arbeit geleistet und trotzdem keine bleibenden Schäden hinterlassen. Er war eben ein Meister seines Fachs.
Jakob Schreevogl kümmerte sich derweil um seine Stieftochter, träufelte ihr Wasser in den Mund und tupfte ihr die Stirn. Als der junge Ratsherr Simons Blick bemerkte, fing er an zu reden, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
»Nachdem Ihr gestern Nachmittag bei mir wart und nach den alten Unterlagen gefragt habt, hatte ich keine ruhige Stunde mehr. Die ganze Nacht hab ich mich hin und her gewälzt. Am Morgen bin ich schließlich zunächst zu Euch und dann zum Henkershaus. Als ich dort keinen antraf, bin ich hierher zur Baustelle.«
Er deutete auf die beiden Wachen, die noch immer benommen auf der Mauer saßen.
»Ich habe sie hinter dem Holzstapel gefunden. Sie waren gefesselt und geknebelt. Simon, könnt Ihr mir verraten, was hier vorgefallen ist? «
In kurzen Worten berichtete Simon von ihrem Fund im Brunnen. Er erzählte vom Schrazelloch, vom Kampf des Henkers mit dem Söldner und ihrer Flucht durch den Tunnel. Auch, was die Kinder in der Vollmondnacht vor einer Woche gesehen hatten, erwähnte er. Nur den Verdacht, dass sich dort unten der Schatz des alten Schreevogls befand, behielt er für sich. Ebenso die Tatsache, dass Jakob Kuisl die Wachen niedergeschlagen hatte. Der Patrizier musste vermuten, dass der Teufel die Büttel außer Gefecht gesetzt hatte, bevor er in den Brunnen gestiegen war.
Jakob Schreevogl hörte mit offenem Mund zu. Nur gelegentlich stellte er eine kurze Frage oder beugte sich nach unten, um sich weiter um Clara zu kümmern.
»Die Kinder haben sich das Hexenzeichen also selbst aufgemalt, um sich gegen die anderen Kinder zu schützen ...«, sagte er schließlich.
Er streichelte der schlafenden Clara über die heiße Stirn. Ihr Atem ging jetzt merklich ruhiger. »Mein Gott,Clara, warum hast du mir das nicht erzählt? Ich hätte euch doch helfen können!«
Drohend blickte er zu Sophie hinüber, bevor er weitersprach.
»Der kleine Anton und der Strasser Johannes hätten vielleicht gerettet werden können, wenn ihr nicht so vernagelt gewesen wärt! Was habt ihr euch nur dabei gedacht, ihr Rotznasen? Da läuft ein Wahnsinniger herum, und ihr spielt weiter euere Spielchen!«
»Wir sollten den Kindern keinen Vorwurf machen«, warf Simon ein. »Sie sind jung, und sie hatten Angst. Wichtig ist, dass wir die Mörder schnappen. Zwei von ihnen haben vermutlich Magdalena entführt! Und der Anführer von ihnen ist immer noch mit dem Henker dort unten im Schrazelloch! «
Er blickte zum Brunnen hinüber. Rauch stieg daraus hervor. Was spielte sich dort unten gerade ab? Ob Jakob Kuisl tot war? Simon verdrängte den Gedanken. Stattdessen wandte er sich wieder an den Patrizier.
»Wer mag der Auftraggeber gewesen sein? Wem ist so viel daran gelegen, dass das Siechenhaus nicht gebaut wird? Wer schreckt sogar vor Morden an Kindern nicht zurück?«
Jakob Schreevogl zuckte mit den Schultern.
»Bis vor kurzem habt Ihr ja sogar mich verdächtigt … Ansonsten kann ich mich nur wiederholen. Die meisten Patrizier im Rat, die Bürgermeister eingeschlossen, waren gegen den Bau, weil sie Einbußen befürchteten. Lachhaft, wenn man bedenkt, dass sogar Augsburg ein solches Siechenhaus besitzt!«
Er schüttelte wütend den Kopf, bevor er wieder nachdenklich wurde.
»Aber deshalb die Baustelle zerstören
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