Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
Vom Netzwerk:
Sechs-Uhr-Läuten hallte von der Stadtpfarrkirche hinüber zu ihm, es dämmerte bereits. Kleine Feuer leuchteten in dreibeinigen Glutpfannen, die man um den Rand des Platzes herum aufgestellt hatte, darum tanzten Kinder. Vor dem Ballenhaus hatten die jungen Burschen einen Maibaum aufgerichtet, geschmückt mit bunten Bändern und einem Kranz aus Laub. Ein paar Spielleute standen auf einer frisch gezimmerten, noch harzig riechenden Bühne aus Tannenholz und stimmten ihre Fiedeln und Lauten. Es roch nach Gesottenem und Gebratenem.
    Lechner ließ seinen Blick über die Tische schweifen, die für das Maifest aufgestellt worden waren. Überall saßen Bürger in Sonntagstracht und ließen sich das vom Bürgermeister Karl Semer gestiftete Maienbier schmecken. Es wurde gesungen und gelacht, doch beim Schreiber selbst wollte sich trotz allem keine festliche Stimmung einstellen.
    Die verdammte Hebamme war noch immer ohnmächtig, und der kurfürstliche Stellvertreter wurde noch an diesem Abend erwartet. Johann Lechner grauste vor dem, was dann kommen würde. Verhöre, Torturen, Bespitzelungen, Verdächtigungen ... Hätte die Stechlin gestanden,wäre alles in Ordnung gewesen. Man hätte der Hexe den Prozess gemacht und sie verbrannt. Mein Gott, sie war doch schon fast hinüber! Der Flammentod wäre für sie eine Erlösung gewesen, für sie und die Stadt!
    Johann Lechner blätterte in den alten Akten über die Hexenverfolgungen vor nunmehr zwei Generationen. Er hatte sie noch einmal aus dem Archiv neben der Ratsstube geholt. Achtzig Verhaftungen, unzählige Folterungen ... 63 verbrannte Frauen! Die große Verfolgungswelle hatte erst eingesetzt, als der Landrichter die Sache in die Hand genommen und sich schließlich sogar der Herzog persönlich zu Wort gemeldet hatte. Dann war kein Halten mehr gewesen. Lechner wusste, dass die Hexerei ein Schwelbrand war, der sich durch die Gesellschaft fraß, wenn er nicht rechtzeitig gestoppt wurde. Jetzt war es vermutlich zu spät.
    Das Quietschen der Türe ließ ihn herumfahren. Jakob Schreevogl stand mit hochrotem Gesicht im Ratssaal. Seine Stimme zitterte.
    »Lechner, wir müssen reden. Meine Tochter ist gefunden worden!«
    Der Gerichtsschreiber horchte auf. »Sie lebt?« Jakob Schreevogl nickte.
    »Das freut mich für Euch. Wo hat man sie gefunden?« »Unten an der Baustelle des Siechenhauses«, keuchte der Ratsherr. »Aber das ist noch nicht alles ... «
    Und dann erzählte er dem Gerichtsschreiber, was ihm Simon berichtet hatte. Schon nach wenigen Worten musste sich Johann Lechner setzen. Die Geschichte, die ihm der junge Patrizier vorsetzte, war einfach zu unglaublich.
    Als Jakob Schreevogl geendet hatte, schüttelte Lechner den Kopf.
    »Selbst wenn das wahr sein sollte, das glaubt uns keiner«, sagte er. »Am wenigsten der kurfürstliche Stellvertreter.«
    »Nicht, wenn wir den Inneren Rat hinter uns haben«, warf der Patrizier ein. »Wenn wir einstimmig für eine Freilassung der Stechlin plädieren, dann muss auch der Graf zustimmen. Er kann sich nicht über uns hinwegsetzen. Wir sind freie Bürger, das ist vermerkt in den Gesetzen der Stadt. Und die hat damals der Herzog selbst unterschrieben!«
    »Aber der Rat wird niemals für uns stimmen«, gab Johann Lechner zu bedenken. »Semer, Augustin, Holzhofer – alle sind von der Schuld der Hebamme überzeugt.«
    »Es sei denn, wir präsentieren ihnen den wahren Auftraggeber der Kindermorde.«
    Der Gerichtsschreiber lachte.
    »Vergesst es! Wenn er wirklich aus dem inneren Zirkel der Stadt stammt, dann ist er mächtig genug, sein Tun zu verheimlichen.«
    Jakob Schreevogl vergrub das Gesicht in den Händen und rieb sich müde die Schläfen.
    »Dann sehe ich für die Stechlin keine Rettung mehr ... «
    »Oder Ihr opfert die Kinder«, warf der Gerichtsschreiber beiläufig ein. »Erzählt dem Grafen von der wahren Herkunft der Hexenmale, und er lässt die Hebamme vielleicht laufen. Aber die Kinder ...? Sie haben sich mit Hexerei eingelassen. Ich glaube nicht, dass sie der Graf so einfach gehen lässt.«
    Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
    »Die Hebamme oder Euere Tochter, Ihr habt die Wahl«, sagte Johann Lechner.
    Dann ging er hinüber zum Fenster. Von Norden wehte plötzlich der Ruf eines Horns herüber. Der Gerichtsschreiber streckte seinen Kopf hinaus, um festzustellen, woher das Rufen genau kam. Er blinzelte, dann hatte er sein Ziel gefunden.
    »Seine Exzellenz, der Landgraf«, sagte er in Richtung des Patriziers, der noch immer wie

Weitere Kostenlose Bücher