Die Herren der Unterwelt Bd. 8 - Schwarze Niederlage
taten, als bemerkten sie sie nicht, als sie sich an ihnen vorbeidrängelte, und sie vernahm nicht einen Laut des Protestes. Gut. Sie hatten jetzt schon Angst vor ihr.
Nachdem sie das Objekt ihrer jungen Begierde erreicht hatte, stellte sie sich so hin, wie sie es bei ihrer Mutter schon so oft gesehen hatte. Die rechte Hüfte leicht vorgeschoben, die Faust mit dem Dolch so in die Seite gestützt, dass die Klinge nach außen zeigte.
Der Mann saß auf einem Baumstumpf und hatte die Ellbogen auf seine verschorften Knie gestützt. Den Kopf hielt er leicht gebeugt, sodass ihm die tiefschwarzen Haare in die Stirn fielen.
„Du“, sagte sie in Menschensprache. „Sieh mich an.“
Er hob den Blick und schaute sie durch seine wirren Locken an. Er sieht gut aus, dachte sie. Seine Gesichtszüge wirkten wie in Stein gemeißelt. Er hatte eine markante Nase, scharfe Wangenknochen, schmale, rote Lippen und ein kantiges Kinn.
Aus der Nähe stellte sie fest, dass die Kette nur um seine Handgelenke lag, jedoch nirgends festgemacht war. Entweder hatte Juliette keine Ahnung, wie man einen Gefangenen ordentlich festhielt, oder der Mann war schwächer, als Kaia angenommen hatte.
Enttäuschend. Aber kein Grund, ihre Pläne zu ändern.
„Du gehörst mir“, sagte sie kühn. „Vielleicht wird deine vorherige Herrin versuchen, mit mir um dich zu kämpfen, aber ich werde sie besiegen.“
„Ach ja?“ Seine Stimme war tief und kräftig und schien mit Donner und Blitzschlag getränkt. Kaia unterdrückte ein Schaudern. „Wie heißt du, kleines Mädchen?“
Sie biss fest die Zähne aufeinander. Ihre vorübergehende Beunruhigung war vergessen. Sie war kein kleines Mädchen! „Ich bin Kaia die … Stärkste. Ja, genauso heiße ich.“ Beinamen waren bei den Harpyien extrem wichtig und wurden von den Stammesführerinnen ausgewählt. Zwar wartete Kaia noch auf ihren Namen, doch sie war sich ganz sicher, dass ihre Mutter ihre Wahl gutheißen würde.
„Und was genau hast du mit mir vor, Kaia die Stärkste?“
„Ich werde dich natürlich zwingen, alle meine Bedürfnisse zu erfüllen.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Wie zum Beispiel?“
„Meine Pflichten zu erledigen. Alle meine Pflichten. Und wenn du sie nicht erledigst, bestrafe ich dich. Mit meinem Dolch.“ Sie wedelte mit besagter Waffe in der Luft herum, wobei die Klinge bedrohlich im Sonnenlicht glänzte. „Ich bin ziemlich grausam, weißt du? Ich habe schon Menschen getötet. Richtig getötet. So getötet, dass sie selbst danach noch Schmerzen hatten.“
Er reagierte weder auf ihre Waffe noch auf ihre implizierte Drohung, und sie kämpfte darum, sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen. Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass die meisten Menschen keine Ahnung von den Fähigkeiten einer Harpyie hatten. Offensichtlich gehörte er zu diesen schlecht informierten Exemplaren. Weil er selbst keinen Fünfhundertkilofels hochzuheben vermochte, konnte er sich vermutlich nicht vorstellen, dass jemand anderes dazu in der Lage war.
„Und wann soll ich mit der Erfüllung dieser neuen Pflichten beginnen?“, fragte er.
„Sofort.“
„Na schön.“ Sie hatte mit einem Streit gerechnet, doch er erhob nur seinen massigen Körper von dem Baumstumpf. Götter, wie groß er war! Sie musste hoch … hoch … und noch weiter hoch schauen.
Dennoch war sie nicht eingeschüchtert. Beim Training hatte sie gegen weitaus größere Wesen gekämpft und gewonnen. Na ja, vielleicht waren sie nur ein bisschen größer gewesen. Also gut, sie waren allesamt kleiner gewesen. Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt irgendwen gab, der so groß war wie dieser Mann. Kein Wunder, dass Juliette ihn für sich beansprucht hatte.
Kaia grinste. Ihr erster Soloangriff und dann auch noch am helllichten Tag, und sie würde das Feld mit einem Preis von vielen verlassen. Sie hatte eine gute Wahl getroffen. Ihre Mutter würde an dem Mann keinen Makel finden, ihn womöglich sogar selbst haben wollen. Wenn Kaia mit ihm fertig wäre, würde sie ihn vielleicht Tabitha überlassen.
Tabitha würde sie anlächeln, sich bedanken und ihr sagen, was für eine wunderbare Tochter sie war. Endlich. Kaias Herz setzte einen Schlag aus.
„Steh da nicht so rum.“ Noch ehe der Mann Zeit hatte, etwas zu erwidern, eilte sie mit wild schwirrenden Flügeln hinter ihn und gab ihm einen Schubs. „Beweg dich.“
Er stolperte, fing sich jedoch schnell wieder. Hoch erhobenen Hauptes ging er los. Doch kurz bevor er den Rand
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