Die Herren der Zeit
Tiefe.
Das heißt, sie stürzten nicht. Sie schwebten. Wenn auch rings um sie her das schäumende Wasser mit rasender Geschwindigkeit vorüberrauschte, so schien es auf ihre Leiber doch keinen Einfluss auszuüben. Es war, als wären sie körperlos, nicht substanzieller als die Schatten, die in einem stetigen Strom schillernd zur einen Seite emporstiegen, um auf der anderen dunkler als zuvor wieder in die Tiefe zu fallen.
Dann brach der Strom der aufsteigenden Schatten ab.
Es kam so plötzlich, dass Ithúriël erst meinte, sie habe sich getäuscht. Doch so sehr sie auch durch die verschleiernden Fluten starrte, von den Schattenwesen, die ihren Weg mit silbrigem Licht erleuchtet hatten, war nichts mehr zu sehen. Noch waren die absteigenden Schatten auf der anderen Seite davon nicht betroffen, doch dann wurde auch ihr Strom unregelmäßiger, flackerte und erlosch.
Nichts war mehr um sie her als die ewig fallenden Wasser.
Endlos schien der Weg in den Abgrund. Tiefer und tiefer sanken sie hinab. Zeit und Raum verloren ihre Bedeutung. Fast schien es so, als würde der Strudel, der mit Macht seinem tiefsten Punkt entgegenraste, niemals ein Ende finden, sondern auf ewig so weiter fallen, bis es nichts mehr gab als sein immerwährendes Dröhnen und Tosen, das das Ohr betäubte, das Auge blendete und jeden Gedanken auslöschte, den ein denkendes Wesen zu formen imstande war.
Dann stürzte der Strom hinaus in eine große hallende Leere und ergoss sich schäumend in einen tiefen, kristallklaren Teich.
Ithúriël und Gwrgi schwebten herab wie zwei Blätter, die vom Baum gelöst zu Boden trieben.
Hier unten, am Grunde der Welt, gab es kein Licht. Dennoch erkannten sie schemenhaft, dass sie sich in einer Höhle befanden, einem unterirdischen Gewölbe von so gewaltigen Dimensionen, dass kein Mensch es hätte ermessen können. In seinem Zentrum lag der Teich, in den sich von der Decke her strudelnd und tosend der Wasserfall ergoss. Er verzweigte sich nach außen hin in verschiedene größere und kleinere Arme, durch die das Wasser in die unterschiedlichsten Richtungen abfloss; wohin, ließ sich nicht sagen. Doch von den Pfuhlen her, die sich entlang der Ufer gebildet hatten, blinkte es heller, wo sich Wasser und Fels zu geschmolzenem Silber vereinigten.
Am Rande der riesigen Höhle ballten sich die Schatten. Wie viele es waren, war nicht auszumachen. Sie türmten sich auf zu flackernden Säulen, die zugleich wieder zerfielen, spalteten sich und verschmolzen und bildeten sich neu. Sie waren zugleich eins und doch viele.
In ihrem Zentrum stand einer, der noch schwärzer war als die Schatten.
Es war nicht so sehr seine Gestalt, die ihn geradezu als Verkörperung der Dunkelheit erscheinen ließ, es war das, was er ausstrahlte. Er war in eine geschuppte Rüstung gekleidet und stand gestützt auf ein mächtiges schwarzes Schwert. Langes schwarzes Haar umwallte sein Haupt. Das Einzige an ihm, das bleich erschien, sofern man dies in der allumfassenden Düsternis sagen konnte, waren seine Hände und sein Gesicht: ein feines, schmal geschnittenes Antlitz, das man schön hätte nennen können, wäre da nicht der rote Glanz in seinen Augen gewesen und das schwarze Mal auf seiner Lippe.
›Ich bin Azrathoth.‹
Der//Die Schatten war//waren verwirrt.
Die Vergangenheit war noch zu jung, um vergessen zu werden, aber da, wo sich keine Struktur gebildet hat, um die Erinnerung festzuhalten, ist sie nicht mehr als eine Ansammlung von Bildern, die der Geist nur mit bewusster Anstrengung in eine Reihenfolge bringt.
Krähen über dem Feld.
Eine Grotte auf dem Grund einer Schlucht, wo ein Wassertropfen in einen kleinen Tümpel fällt.
Ein blendendes Licht und ein unendliches Verlangen.
Und eine wilde Flucht, hinab, nur hinab, durch Fels und Stein, durch Schluchten und Risse, die kein Schimmer des goldenen Lichts der oberen Welt je erreicht hatte, hinab auf den tiefsten Grund, dorthin, wo das ewige Brausen des Wassers alles Denken auslöscht, alle Gefühle und alles Verlangen …
Zeit verging.
Irgendwann regte sich, zwischen glitzerndem Silber und schwarzem Fels, wieder ein Hauch des Schattens.
Er existierte noch, eins und in vielen Gestalten. Reduziert auf seine bloße Existenz, war das Einzige, was er wahrnahm, das Herniederrauschen des Wassers.
Hier war der Ort, an dem alles endete, um von hier aus wieder neu seinen Ausgang zu nehmen.
War es Neugierde, die den Schatten trieb? Oder war dieses Wort zu viel für ein Wesen, das nicht
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