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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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waren.
    »Ithiaz Keiden«, sagte sie. »Die Wasser des Erwachens.« Wie oft hatte sie davon gesungen, von dem Augenblick, als das Göttliche Paar einander zum ersten Mal in die Augen sah und die Elben erwachten, als Erstgeborene der Schöpfung. »Aber … ich habe immer gedacht, die Welt habe erst zu dem Zeitpunkt begonnen, als der Herr und die Herrin sich hier begegneten. Gibt es denn eine Zeit, die noch vor dem Anfang liegt …?«
    Gwrgi legte den Finger auf die Lippen. »Leise, sie könnten uns hören. Und wir wollen die Ordnung der Dinge nicht stören, nicht wahr? Die Überwelt und die Untererde sind an den Rand der Existenz geraten, und der Strudel der Zeit hat uns an ihr Gestade gespült. Komm, wir müssen zurück.«
    Er nahm ihre Hand. Sein Griff war trocken und warm. Wie im Traum erhob sie sich wieder und ließ sich von ihm führen. Sie schritten zwischen den Leibern der Schlafenden hindurch, bis sie den Eingang einer Höhle erreichten.
    »Wohin …«
    »An den Ort, wo sich alle Zeiten begegnen.«
    Da erinnerte sie sich. Sie war hier schon einmal gewesen, auf dem Weg nach Zarakthrôr, zusammen mit ihren Gefährten, als sie den Eingang zu dem unterirdischen Reich der Zwerge suchten. Doch damals waren die Lilien verdorrt gewesen, die Wasser zu einem Rinnsal vertrocknet.
    Und plötzlich wurde sie von einer heißen Sehnsucht erfüllt, Zeugin zu werden bei dem Anbeginn aller Dinge, jenem Moment, der unauslöschlich in den Geist eines jeden Elben eingegraben war, als die Welt jung war und frei von Kümmernissen und Sorgen. Jetzt, jetzt musste es geschehen, wenn das Leben seinen ersten Atemzug tat, erstrahlend im Glanz des Morgens, im Licht der neuen Sonne und des jungen Mondes. Sie spürte, wie es anschwoll und aufbrandete, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich umwandte und sah …
    Doch da war nichts als eine glatte Wand aus Stein.
    Sie befanden sich in einem geschlossenen Raum. Er war kreisrund, wie die Welt. Ja, in mancher Hinsicht war er die Welt oder zumindest das, was von ihr geblieben war. Ein umgrenzter Bezirk. Das Gestein, das ihn umgab, war alt, uralt; man konnte es spüren. Selbst die unmerklich langsamen Bewegungen, die es seit Urzeiten geformt und neu geformt hatten, waren darin zur Ruhe gekommen. Nun war die unendliche Last von ihm genommen worden. Es war Zeit, ein Ende zu machen.
    In der Mitte der Halle erhob sich ein Thron. Er war aus behauenem Stein, mit so feinem Meißel geglättet, dass sich keine Spur einer Bearbeitung mehr darauf finden ließ. Auf dem Thron saß einer, der ebenso still war wie der Fels, der alles umgab. Es war der älteste Zwerg, den Ithúriël je gesehen hatte. Sein Bart, so lang gewachsen, dass er ihm bis auf die Knie reichte, war schütter geworden wie sein Haar. Sein Antlitz war tief zerfurcht, als hätten alle Sorgen der Welt darin ihre Spuren hinterlassen. Kein Muskel regte sich darin; kein Haar auf seinem Haupt zitterte. Seine Haut war grau wie verwitterter Fels. Doch die Augen unter der Hecke buschiger Brauen blickten immer noch klar, schauten dem Ende ins Angesicht, ohne Furcht, ohne Zorn, ohne Bitterkeit. Wäre der Blick dieser Augen nicht gewesen, hätte man glauben können, er sei tot. Doch obwohl die letzte Verwandlung unmittelbar bevorstand, war er immer noch voller Leben.
    »Wer ist das?«, flüsterte Ithúriël.
    »Das ist Ardhamagregorin, Erzmeister, letzter der Drei«, erwiderte Gwrgi, ebenso leise. »Er war einer der ersten Zwerge, die der Hand des Meisters der Untererde entsprangen. Ihm ist es bestimmt, der Letzte zu sein, ehe die Welt endet.«
    »Dann sind wir hier in der Untererde?«
    »In der Untererde am Ende aller Dinge. Komm, es ist nicht mehr viel Zeit.«
    Wieder fasste er sie bei der Hand, und sie ließ sich willfährig mitziehen. Hinter dem Thron, an der Rückseite, gab es eine Öffnung in der Wand, ein kreisrundes Loch, gerade groß genug, dass jemand, der schlank war oder von kleiner Statur, hindurchkriechen konnte. Ithúriël musste sich bücken, als sie Gwrgi nachfolgte, und für einen Augenblick umfasste sie Dunkelheit.
    Hinter ihr schloss sich der Fels.
    Als sie sich wieder aufrichtete, befand sie sich in einer anderen, geräumigeren Höhle.
    Wasser rann herab, entlang an Stalaktiten, die in filigranem Gitterwerk von der Decke reichten, und fing und sammelte sich an deren Spitzen, bis die Masse zu groß wurde und der Drang des Wassers, immer dem tiefsten Punkt zuzustreben, zu mächtig. Dann fiel der Tropfen, hier und da und

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