Die Herren der Zeit
dort, ein ewiges Wasserwerk, mit einem ›Pling!‹, auf einen Zapfen zu, einen Stalagmiten, der seinem Widerpart von unten entgegenwuchs. Eine hauchdünne Schicht um die andere, so wuchsen sie, ungestört, im Finstern, in der mechanischen Hoffnung, sich irgendwann im Laufe ungezählter Jahre zu vereinen.
Es war dunkel hier drunten, und dennoch konnte Ithúriël sehen; was sie sehr verwunderte, aber auf eine abstrakte, unbeteiligte Art. Gwrgi hielt sie immer noch fest, doch sie spürte den Druck seiner Hand nicht mehr, nur die sanfte Bewegung, mit der er sie mit sich zog.
»Komm, wir müssen noch tiefer. Noch weiter hinab.«
Sie fragte nicht. Sie folgte ihm durch eine Öffnung, welche sich, dem bloßen Auge kaum sichtbar, zwischen dem steinernen Gitterwerk auftat und einen schmalen, gewundenen Höhlengang entlang, der auf eine hohe Galerie zustrebte.
Unter ihnen tat sich ein Felsendom auf. Er mochte wohl hundertfünfzig Schritt in der Länge messen und doppelt so viel in der Breite. Getragen wurde er von gewaltigen Stützpfeilern, die aus dem lebenden Fels herausgehauen waren. Wie mächtige Bäume ragten sie in die Höhe, fächerten sich in den Gewölben zu immer feineren Verästelungen aus – ein Stein gewordener Wald, in dessen Blattwerk es farbenprächtig funkelte.
Vögel und andere Tiere gaben sich dort ein Stelldichein, von den winzigsten, dem Auge kaum sichtbar, bis zu den Herren der Schöpfung: Kolibris verharrten buntschillernd vor Blüten, Eisvögel in Blau tauchten hinab in die Tiefe, aus denen flammengeläutert ein Phönix emporstieg. Hier saß ein Falke mit samtigem Gefieder; dort hockte eine Schneeeule, die großen Augen gegen das Licht geschlossen; da verharrte ein Adler, heraldisch in Schwarz, Weiß und Rot. Jenseits davon erhob sich ein Greif mit ockerfarbenem Leib und bronzenem Gefieder; auf der anderen Seite starrte ein Basilisk, geschuppt in Silber und Grün; und drüben zwischen den Zweigen lauerte eine Harpyie, mit Federn scharf wie Stahl. Eine Schlange wand sich durchs Geäst, riesig, in glitzernden Windungen, verfolgt von einem gefleckten Panther, der seine mächtigen Muskeln spannte und in jedem Augenblick loszuspringen schien. Die Krönung von allem aber bildete ein Feuerdrache, der seine Schwingen über den ganzen Raum ausbreitete und dessen silberne Klauen die Flammen widerspiegelten, die aus seinen Nüstern lohten.
Doch nichts an dieser Schönheit war natürlicher Art. Was so funkelte und schillerte, als wäre es voller Leben, war doch nur toter Stein, kunstvoll zusammengefügt aus Myriaden von Edelsteinen: Achate, Amethyste und Alexandrite, Berylle und Chrysolithe, Granate, Jade und Korallen, Lapislazuli und Opale, Rubine, Saphire und Smaragde, Topase, Torquase und Turmaline und jener gelbe Zirkon, der wie durchsichtiges Gold ist.
Das Rauschen aber, das den steinernen Wald erfüllte, als fege ein ständiger Wind durch sein Gezweig, kam von einem Wasserfall im Zentrum des Felsendoms. Wären die Wirbel nicht gewesen, in denen sich sein Sturz auflöste, und die Schleier feinster Wassertröpfchen, die von ihm ausgingen, hätte man ihn für eine kristallene Säule halten können. Doch nicht einen Augenblick lang ließ der Strom des fallenden Wassers nach, der sich aus dem schnabelförmigen Aquädukt ergoss, und er schien durch ein kreisrundes Loch im Boden in eine Tiefe hinabzufallen, die bis auf den Grund der Welt reichte.
»Dies ist das Herz des Zwergenreiches auf Erden«, sagte Gwrgi. »Nicht die Gewölbte Halle, wo der Thron der Meister sich erhebt. Und auch die Wunder der Untererde kommen dem hier nicht gleich. Hier schaffen sie das, wozu sie gemacht wurden: aus den Gesteinen der Welt ein Abbild der Schöpfung, zum ewigen Lobe dessen, der dies alles in seinen Händen hält.«
Ithúriël verstand nicht, was er meinte. Wieder sagte er: »Komm!«, und wies auf eine Treppe, die spiralig um eine zentrale Spindel nach unten führte. Ithúriël zögerte einen Moment. »Aber …«
»Nein, keine Angst«, sagte Gwrgi, als habe er ihre Gedanken gelesen, »man wird uns nicht sehen. Für sie sind wir nicht wirklich hier. Wir sind nur Strandgut auf den Wellen der Zeit, die an diese Klippen branden.«
Sie wunderte sich ein wenig über seine Wortwahl, doch es lag eine Richtigkeit darin, die ihr einleuchtete. Ihr war, als befände sie sich in einem Traum, aus dem sie nicht aus eigenen Stücken erwachen konnte, und wie im Traum folgte sie ihm also die gewundene Treppe hinab.
Noch ehe sie in
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