Die Herren der Zeit
Weichbild dieser Anlage war Kim nicht fremd. Er hatte schon einmal davorgestanden, damals, als in der Burg von Gurick-auf-den-Höhen das Ffolk sein letztes Aufgebot gegen das Heer von Bolgs und Dunkelelben gesammelt und Pläne für die große Schlacht geschmiedet hatte. Er hatte diese Festung bereits gesehen, als nichts von ihr übrig geblieben war bis auf die Überreste eben dieser Zitadelle. Nun sah er sie in ihrer Blüte.
Unter ihnen erstreckte sich Terrasse um Terrasse. Jetzt, im Licht der aufgehenden Sonne, war deutlich zu erkennen, dass die Wälle keineswegs so weit reichten, wie Kim und Fabian zunächst angenommen hatten. Die drei oder vier obersten Ebenen waren weitgehend fertig gestellt, und der Außenwall zog sich lückenlos wie eine große Mauer über das Hügelland. Aber dazwischen wiesen die Befestigungen noch Lücken auf, die von den Arbeitern mit großen Steinen geschlossen wurden, welche man in mühsamer Arbeit über Rampen heranschleppte. Über allem lag das Gebrüll der Aufseher, durchsetzt von dem scharfen Knall der Peitschen. Und auf jeder Ebene gab es Garnisonen mit Soldaten, und auf allen Mauern patrouillierten Wachen, deren Helme und Lanzen in der Morgensonne blitzten.
»… verstehe das nicht«, sagte Fabian. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. »… die Mauern … seit Jahrhunderten fertig … mit den Leuten reden …«
»Wir können da nicht runter«, beschwor ihn Kim. »Die Wachen werden uns sehen.« Er überlegte fieberhaft. »Wir müssen Mäntel und Waffen hier lassen und uns unter die Menschen mischen.«
Fabian, der nur die Hälfte verstanden hatte, schüttelte den Kopf. Kim wusste, was das bedeutete: Nein, mein Schwert gebe ich nicht her! Die Zeit wurde knapp. Jeden Augenblick konnte einer der Krieger nach oben blicken und sie entdecken. Kim zerrte sich den Mantel von der Schulter, jenes leichte und doch so feste Gewebe, das er in Naith-dulin von den Elben bekommen hatte, und deutete an, was er vorhatte: das Schwert darin einzuwickeln und es in dem Hohlraum unter der Treppe zu verstecken.
Fabian zögerte noch einen Moment, dann schnallte er den Schwertgürtel ab und wickelte die Waffe zuerst in seinen eigenen, zerfetzten Umhang, ehe er Kims Elbenmantel darum schlang. Der Stoff schien sich perfekt der Umgebung anzupassen; unter der Treppe war kaum noch etwas davon zu erkennen.
»… komme mir so nackt vor«, sagte Fabian.
Kim seufzte. Dann zog er Knipper aus dem Gürtel und reichte den Dolch seinem Freund. Steck ihn in den Stiefel , deutete er. Fabian ließ das Messer dankbar verschwinden.
Geduckt schlichen sie über den freien Platz. Niemand war zu sehen, nicht einmal eine Wache, was verwunderlich war. Aber vermutlich wagte sich nach hier oben, wo die Schattenfürsten herrschten, ohnehin kein ungebetener Besucher. Und wer weiß, vielleicht wurden ja alle von hier verbannt, während die Herren im Eisernen Turm ihre magischen Riten vollführten.
Von der obersten Ebene der Feste führte eine Rampe hinab, die sich an der Mauer entlangzog. Kim und Fabian, die dem geschwungenen Verlauf folgten, kamen sich unendlich klein und preisgegeben vor, mit nichts als nacktem Stein rechts und links unter dem offenen Himmel.
Wie Fliegen an einer Wand krochen sie weiter. Vor ihnen lag ein Torhaus, welches das Ende des Aufgangs markierte. In seinem Schatten sahen sie die Gestalten von Wachen.
»Bolgs«, flüsterte Kim. »Was jetzt?«
»Lass mich nur machen!«, gab Fabian zurück.
Dann richtete er sich hoch auf, und mit festem Schritt ging er auf das Tor zu.
»Du bist wohl verrückt geworden …«, begann Kim, aber Fabian schien ihn nicht zu hören, sodass der Ffolksmann keine andere Wahl hatte, als seinem Freund nachzulaufen.
Vor ihnen gähnte das dunkle Tor. Die Wachen blickten starr in die andere Richtung. »Skâsh!«, brüllte Fabian.
Die Wachen fuhren zusammen und rissen ihre Speere hoch. Aber nicht, um sie ihnen in den Bauch zu rammen; nein, sie nahmen Haltung an und starrten noch fester geradeaus als zuvor.
Fabian marschierte seelenruhig zwischen ihnen hindurch, Kim im Schlepptau. Die Torwachen rührten sich nicht. Sie trauten sich nicht einmal, zu ihnen herüberzublicken, um zu sehen, wer ihnen den Befehl gegeben hatte.
Fabian winkte lässig mit der Hand. »Atash!« Hinter ihnen lösten sich die Wachen aus ihrer Erstarrung.
»Folgen?«, rief der eine. »Wir nicht folgen. Wir wachen!«
Und der andere: »Und wer seid ihr überhaupt?«
Fabian und Kim begannen zu
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