Die Herren der Zeit
das Reich des Todes.
Kim schluckte. Dann packte er das dünne Seil, das über die Kante hing, und prüfte dessen Festigkeit.
»Ich gehe voraus«, sagte er. »Für den Fall, dass jemand uns folgt. Dann kannst du ihn aufhalten.« Was natürlich mit sich brachte, dass er den neuen Gefahren ins Auge sehen musste, die in der Tiefe drohten. Es war eines so schlimm wie das andere.
Der Schacht war glatt, aus Steinen gemauert, die jedoch ohne Ritzen verfugt waren und den Füßen kaum Halt boten. Hand um Hand hangelte er sich hinab. In die Tiefe schauen konnte er nicht; er traute sich auch nicht, aus Angst davor, was er dort sehen könnte. Er konzentrierte sich ganz darauf, in der Dunkelheit einen festen Griff zu bewahren und nicht abzurutschen.
»Bist du schon unten?«, hörte er Fabians Stimme.
Er wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Das Seil rutschte ihm durch die Finger. Dann fanden seine tastenden Füße plötzlich Halt.
Der Gang, wie er feststellte, machte hier einen Knick. Zwar ging es weiter in die Tiefe, aber nicht mehr lotrecht wie zuvor. Der Winkel war immer noch zu steil, als dass man ohne Hilfsmittel hätte hinabklettern können. Aber er konnte sich jetzt besser mit den Füßen abstützen, als es tiefer ging.
War da in der Ferne ein Licht?
Er kletterte weiter, jetzt halb laufend, halb hangelnd, wie ein Bergsteiger beim Abseilen an einer Schrägwand. Das Seil hing nun frei im Schacht und schwankte wild hin und her; dann fing es sich an der Decke, wo der Schacht abgewinkelt war, und kam zum Stillstand.
Von oben kam ein dumpfer Knall, der von den Wänden des Schachtes vielfach gebrochen zurückgeworfen wurde. Es klang, als sei ein harter Gegenstand gegen eine massive Holzwand getrieben worden.
Sie brechen die Tür auf.
» Ich komme!«, rief Fabian von oben. »Mach schneller!«
Wieder begann das Seil wild zu schwanken. Kim machte schneller, so schnell, wie er konnte. Trotz der Lappen, die er um seine Hände gewickelt hatte, brannte das Seil in den Fingern.
Oben ertönte ein Krachen, gefolgt von einem Splittern von Holz. Raue Stimmen, die nicht zu verstehen waren.
Fabian turnte um den Knick in der Röhre. Er kletterte in rasender Eile, doch mit sicheren Griffen. Kim versuchte, noch schneller zu werden, aber er merkte, dass er ins Rutschen kam. Verzweifelt klammerte er sich an dem Seil fest.
Dann griff seine Hand ins Leere. Das Seil war zu Ende.
Er konnte die Hand vor den Augen erkennen; so hell war es. Doch als er den Kopf nach unten drehte, sah er immer noch nichts. Der Gang bog sich ein Stück weiter unten außer Sicht. Konnte er sich auf eine Rutschpartie ins Ungewisse einlassen?
Fabian war jetzt fast bei ihm. Kim hing nur noch an einer Hand am Seil. Er spürte, wie es ihm durch die Finger zu gleiten begann. Sollte er loslassen und sich dem Schicksal überantworten, das auf ihn wartete, ehe sein Freund über ihn stolperte und sie ins Verderben riss?
Das Schicksal enthob ihn der Entscheidung. Das Seil erschlaffte. Irgendjemand musste es durchtrennt haben.
Kim geriet ins Rutschen. Mit Händen und Füßen versuchte er die schneller werdende Fahrt zu bremsen, aber vergebens. Er wurde herumgeschleudert. Die Wände rauschten an ihm vorbei. Immer wilder wurde die rasende Rutschpartie.
Dann flog er hinaus ins Freie, wie ein Stein, von einem Katapult geschleudert. Über ihm der Himmel. Dann die Erde. Dann nichts mehr.
In der Zitadelle, hoch oben über den Mauern der Finsternis, stand eine Gruppe von Wächtern zitternd vor dem Thron des Schattenfürsten. Zur Rechten und zur Linken Dunkelelben in ihren schwarzen Chitinpanzern. Vor ihnen, in der Pose eines Anklägers, Azanthul. ›Quès referà?‹
Einer der Bolg-Menschen trat vor. In seiner Hand hielt er ein zerknittertes Stück Papier. »Das hier, Herr!«
Azanthul nahm den schmuddeligen Fetzen mit zwei Fingern entgegen, als ekelte er sich davor, und studierte ihn wie ein hässliches Insekt.
Darauf waren nur wenige Zeilen zu erkennen:
Sein Blick verfinsterte sich. Die Halbmenschen vor ihm warfen sich verstohlene Blicke zu, aus denen Angst sprach. Azanthul tat, als sehe er es nicht.
»Wer war es?«, zischte er, diesmal in der Sprache der Menschen.
»Ein Mann und ein Kind«, erklärte der Sprecher. »Ein Junge mit spitzen Ohren. Sie gingen den Weg der Toten. So sagen die Sklaven.«
Der Schattenfürst auf seinem Thron beugte sich vor. Licht fiel auf sein altersloses Gesicht und ließ es in der Schwärze seines Gewandes und der Schuppenrüstung,
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