Die Herren der Zeit
der graue Schein des Tages fiel, und ein rundes, ummauertes Loch im Boden, das in die Tiefe führte.
Die beiden Wächter waren gerade dabei, den zweiten Toten vom Karren zu zerren und ihn in die Tiefe zu stoßen, als einer von ihnen aufblickte. Er hatte die Verfinsterung im Eingang bemerkt, als Kim und Fabian den Raum betreten hatten. Er konnte sie nur als Schatten erkennen, doch er wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber er war es nicht gewohnt, bei seiner Tätigkeit gestört zu werden, und so reagierte er den Bruchteil einer Sekunde zu spät.
Fabian war bereits bei ihm und rammte ihn mit der Schulter.
Der Bolg-Mann geriet ins Taumeln. Erschrecken dämmerte auf seinem Gesicht. Doch das Gewicht des Toten, den er immer noch festhielt, war zu groß, und so wurde er von ihm, ehe er sich versah, über den Rand der Grube gezogen, stürzte und fiel.
Ein Schrei, der leiser wurde und abrupt endete.
Fabian ruderte mit den Armen, konnte sich aber gerade noch fangen. Der andere Wächter, der noch rechtzeitig losgelassen hatte, stand auf der anderen Seite des Schachtes und starrte ihn an.
»Komm«, lockte Fabian. »Hol mich!«
Der Wächter hatte kein Schwert, aber er hatte eine Peitsche an seinem Gürtel hängen, die er jetzt hervornahm. Fabian und der Bolg-Mann umkreisten sich, um den runden Schacht herum. Der Wächter holte mit der Peitsche aus. Die Peitschenschnur zuckte über den Abgrund. Aber dies war eine Waffe, für die man freien Raum benötigte; der Hieb streifte die Decke, und die Peitschenschnur fiel kraftlos herab. Fabian griff danach und bekam sie zu fassen. Beide zogen daran, der Bolg in die eine, Fabian in die andere Richtung, um den Gegner in den Abgrund zu zerren.
In diesem Augenblick sprang Kim aus der Dunkelheit den Bolg von hinten an. Es war vielleicht keine heldenhafte Tat, aber für den kleinen Ffolksmann erforderte es Mut genug, in der Düsternis, vor dem lauernden Abgrund.
Der Wächter taumelte; Fabian zog mit einem Ruck, und dann war da nur die gemauerte Kante vor dem Loch, das in die Tiefe führte.
Im Sturz zeigte der Bolg-Mensch, was noch in ihm steckte. Eisern hielt er den Griff der Peitsche umklammert. Aber auch Fabian wollte die Schnur nicht fahren lassen. Er wurde auf den Abgrund zu gerissen.
»Fabian!«, schrie Kim. Und dann tat er etwas, wozu er bei längerem Überlegen nie imstande gewesen wäre. Mit einem Satz sprang er über die Öffnung, ungeachtet der noch immer peitschenden Schnur, bekam die gegenüberliegende Kante zu packen und hievte sich noch im Schwung der Bewegung hinüber. Seine Hände krallten sich in Fabians Kleidung. »Fabian! Lass los!«
Die Schnur glitt durch Fabians Finger. Halb über dem Abgrund liegend, kamen Kim und er zum Stillstand. Unter ihnen schlug der Körper des Wächters mit einem dumpfen Knall gegen die Seitenwand des Schachtes, prallte dann weiter unten noch einmal auf und rollte mit Gerumpel und Getöse außer Sicht.
Schwer atmend starrten Kim und Fabian in die Tiefe hinab. Unten war alles dunkel, doch am Grunde des Schachtes war ein Schimmer von hellerem Licht, das von weiter draußen hereindrang, mehr zu ahnen als zu sehen.
»Verdammt!«, sagte Fabian. »Ich hatte gehofft, die Peitsche benutzen zu können, um uns den Schacht hinabzulassen. Aber sie hätte wahrscheinlich nicht gereicht. Ohne Seil ist das zwecklos – zu tief und viel zu steil.«
»Ein Seil«, wiederholte Kim. Dann leuchteten seine Augen auf. »Wir haben ein Seil!«
Er schob sich vom Rande des Abgrunds zurück und schnallte seinen Rucksack ab. Darin fand er – neben dem immer noch ungelesenen Buch – die Rolle mit dem feinen Seil, das man ihm in Naith-dulin eingepackt hatte.
»Meinst du, das reicht?«
»Ein Elbenseil!« Fabian staunte. »Das ist stärker, als es aussieht. Aber wir brauchen etwas, damit es uns nicht die Hände zerschneidet.«
Mit Knipper, den er aus seinem Stiefel zog, zerschnitt er die Plane, die den Leichenkarren bedeckt hatte, in Streifen, während Kim derweil die Eingangstür schloss und verkeilte. Fabian und Kim wickelten sich die Tuchstreifen um die Hände. Dann befestigten sie das Ende des Seils am Gitter des Oberlichts und ließen den Rest in den Schacht hinabfallen.
Kim wagte gar nicht daran zu denken, was sie am Grunde des Schachtes erwarten könnte; allein die Vorstellung, in diese finstere Tiefe hinabzusteigen, ließ ihn schaudern. Der klaffende Schlund war mehr als nur ein Tor ins Unbekannte. Sich ihm anzuvertrauen war ein Abstieg in
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