Die Herren des Nordens
Tränen liefen mir übers Gesicht, und so
sah mich Finan und fing ebenfalls an zu weinen, und ich wusste, dass auch er sich an zu Hause erinnerte. Ich bemühte mich,
meine Wut wieder wachzurufen, denn nur durch sie bleibt man am Leben, aber die Wut wollte sich nicht einstellen. Stattdessen
weinte ich nur. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Die dunkelste Verzweiflung hatte mich bei der Erkenntnis gepackt,
dass es mein Schicksal war, mich in ein Ruder zu legen, bis ich eines Tages nicht mehr konnte, und dann würde ich über Bord
geworfen werden. Ich weinte.
«Du und ich», begann Finan und unterbrach sich wieder. Es war dunkel, und die Nacht kalt, obwohl Sommer war.
«Du und ich?», fragte ich und kniff die Augenlider in einem Versuch zusammen, die Tränen zurückzudrängen.
«Das Schwert in der Hand», sagte er, «du und ich. Es wird geschehen.» Er meinte, wir würden frei sein und unsere Rache bekommen.
«Träume», sagte ich.
«Nein!» Finan wurde wütend. Er kam an meine Seite und ergriff meine Hand mit seinen beiden Händen. «Gib nicht auf», knurrte
er mich an. «Wir sind Krieger, du und ich, wir sind Krieger!» Früher war ich ein Krieger, dachte ich. Es hatte eine Zeit gegeben,
in der ich in Rüstung und Helm geglänzt hatte, aber jetzt war ich verlaust, dreckig, schwach und weinerlich. «Hier», sagte
Finan und schob etwas in meine Hand. Es war einer von den Hornkämmen, die wir als Fracht geladen hatten, und irgendwie war
es ihm |226| gelungen, ihn zu stehlen und in seiner Lumpenkleidung zu verstecken. «Man darf niemals aufgeben», erklärte er mir, und ich
nahm den Kamm, um mein Haar zu entwirren, das mir inzwischen fast bis auf die Hüfte hinabhing. Ich kämmte die Knoten aus,
zupfte Läuse aus den Zinken des Kamms, und am nächsten Tag flocht Finan mein glattes Haar, und ich tat das Gleiche für ihn.
«So tragen die Krieger unserer Sippe ihr Haar», erklärte er, «und du und ich, wir sind Krieger. Wir sind keine Sklaven, wir
sind Krieger!» Wir waren mager, schmutzig und abgerissen, aber die Verzweiflung war wie ein Regenschauer auf See vorbeigezogen,
und meine Wut verlieh mir wieder neue Entschlossenheit.
Am nächsten Tag beluden wir den
Trader
mit Barren aus Kupfer, Bronze und Eisen. Dann rollten wir Fässer voller Bier ins Heck des Schiffes und füllten den übrigen
Laderaum mit Salzfleisch, hartgebackenen Brotringen und Schläuchen mit eingesalzenem Kabeljau. Sverri lachte über unsere Zöpfe.
«Ihr zwei glaubt wohl, so kommt ihr an eine Frau, was?», machte er sich lustig. «Oder wollt ihr etwa selber Frauen sein?»
Wir antworteten nicht und ließen Sverri grinsen. Er war guter Stimmung, geradezu überschwänglich. Sverri liebte die Seefahrt,
und angesichts der vielen Vorräte, die wir geladen hatten, vermutete ich, dass wir eine lange Reise vor uns hatten, und so
kam es auch. Von Zeit zu Zeit warf er seine Runenstäbe, und sie mussten ihm gesagt haben, dass seine Geschäfte erfolgreich
sein würden, denn er kaufte drei neue Sklaven. Alle drei waren Friesen. Sverri wollte für die neue Fahrt gut bemannt sein.
Und diese neue Fahrt begann schlecht, denn als wir Haithabu verließen, nahm ein anderes Schiff die Verfolgung auf. Ein Piratenschiff,
wie Hakka säuerlich bemerkte. Wir wandten uns mit geblähtem Segel und vollbesetzten |227| Ruderbänken nach Norden, und dennoch holte das andere Schiff langsam auf, denn es war länger, schlanker und schneller, und
nur weil die Dunkelheit kam, konnten wir entkommen. Trotzdem herrschte die ganze Nacht Beunruhigung auf dem
Trader
. Wir zogen die Ruder ein und ließen das Segel herunter, sodass unser Schiff keine Geräusche verursachte. Ich hörte die Ruderschläge
unserer Verfolger in der Dunkelheit, und Sverri und seine Leute hockten mit den Waffen in der Hand bei uns, um uns zu töten,
sobald wir einen Laut gaben. Es war dennoch eine Versuchung, und Finan hätte fast gegen die Seitenwand des Schiffes geschlagen,
um unsere Verfolger anzulocken, aber dann hätte uns Sverri umstandslos niedergemetzelt, und deshalb blieben wir ruhig, und
das fremde Schiff glitt in der Nacht an uns vorbei, und als die Dämmerung kam, war es verschwunden.
Solche Bedrohungen waren selten. Der Wolf reißt keine Wölfe, und der Falke schlägt keinen anderen Falken, und so raubten sich
auch die Nordmänner nur selten gegenseitig aus. Nur ein paar Verzweifelte wagten das gefährliche Unternehmen, Landsmänner
aus
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