Die Herrin der Kathedrale
wollen. Immerhin war die Sonne noch nicht aufgegangen. Vom Vogt hingegen wusste sie, dass er stets als Erster seine Arbeit aufnahm. Eine beeindruckende Stille begleitete den Anbruch des Tages. Uta blieb stehen, legte den Schleier ab und sog die frische Morgenluft ein. Dann schaute sie sich um. Abgesehen von wenigen Rüstungsteilen – ein offensichtlich verbeulter Helm, einige Brustharnische und Knieplatten –, die vor dem Stall aufgestapelt lagen, hatte sich während ihrer Klausur anscheinend nichts Wichtiges ereignet. Von der Kühle des friedlichen Morgens bezaubert, pflückte sie ein Gänseblümchen, das forsch zwischen taunassen Grashalmen herausragte, und klemmte es sich in die oberste Schlaufe ihres Überkleides. Mit dessen leichtem Duft in der Nase bestieg sie den in der Morgendämmerung rötlich schimmernden Turm, den sie seit ihrem ersten Gespräch mit dem Vogt nicht wieder betreten hatte. Im dritten Geschoss angekommen, klopfte sie und fragte, als eine Antwort ausblieb, mit gedämpfter Stimme: »Vogt?«
Doch der Gerufene schien nicht anwesend zu sein. Uta überlegte, ob sie vielleicht gleich ins Moritzkloster gehen sollte. Aber außerhalb der Burgmauern ohne Begleitung? Da fiel ihr die Treppe des Turmes auf, die ins vierte Geschoss führte. Dort musste der Vogt sein.
Uta erklomm die Stufen der hier oben äußerst eng gewundenen Treppe und rief erneut: »Vogt, seid Ihr bei der Arbeit?« Doch wieder blieb die Antwort aus. Im Gegensatz zum dritten Geschoss war die Tür dieser Kammer nur angelehnt. Der Geruch frischen Leders verdrängte den Duft des Gänseblümchens aus ihrer Nase. Sollte der Vogt etwa eigenhändig neue Pergament-Einschläge vorgenommen haben? Uta schob die Tür weiter auf.
»Vogt, verzeiht meine frühe Stör…« Sie stockte, als ihr Blick auf die Wand gegenüber der Tür fiel. Dort hing ein auf überstehenden Holzschienen gespanntes Leder, das ihr der Größe nach mindestens von den Knien bis zum Kopf reichte und zweimal so breit war. Uta trat näher und erkannte hundert und aberhundert feine Linien darauf, die vom jungen Tageslicht, das durch ein kleines Fenster drang, bestrahlt wurden. Einige Linien waren durch rote Farbe hervorgehoben und führten Utas Blick von der linken zur rechten Seite des Leders. Dabei sah sie, wie einige Linien zu schraffierten Flächen, zu Kreuzen, zu Halbkreisen und, am Rand, schließlich in Ecken zusammenliefen. Fasziniert von der Zartheit und der formschönen Symmetrie des Linienspiels berührte sie das Leder mit dem kleinen Finger, um ihre Hand im nächsten Augenblick wieder zurückzuziehen. Die lederne Struktur ließ ihre Haut kribbeln. Was für ein angenehmes Gefühl! Sie wollte es noch einmal und länger spüren! Dieses Mal wählte sie den Mittelfinger, drückte dessen Kuppe auf eine der Rillen und fuhr auf ihr die Kreise, Schraffierungen und eines der Kreuze entlang. Sie meinte zu spüren, wie sich die Linien an ihre Fingerkuppen schmiegten. »Welch einzigartiges Gemälde«, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück, um das Werk in seiner Gänze zu erfassen. Dass der Vogt ihr nie davon erzählt hatte!
»Guten Morgen, Gräfin«, drang zu ihrer Rechten eine Stimme aus der Ecke des Raumes zu ihr.
»Vogt, warum erschreckt …«, fuhr sie noch gefangengenommen von der Einzigartigkeit des Gemäldes herum und hielt sofort inne, als sie nicht den Vogt, sondern Hermann von Naumburg sah, der über ein Buch gebeugt an einem Tisch saß.
»Ihr wohnt hier oben?«, fragte sie verwundert.
»Ich arbeite hier«, entgegnete er und lächelte beim Anblick des Gänseblümchens an ihrem Gewand. »Sofern ich nicht in den Steinbrüchen unterwegs bin. Der Kaiser hat mich für die Tage bis zum Osterfest freigestellt.«
Ein weiteres Mal schämte sie sich für ihre unhöfliche Begrüßung – schon im Burghof hatte sie ihn so ungeschickt angesprochen.
Doch Hermann von Naumburg schien keineswegs gekränkt.
»Euch gefällt die Zeichnung?«
»Ja«, antwortete sie und betrachtete neugierig eine Form auf dem Leder, die wie ein eckiger Käfer aussah, dem die Flügel gestutzt worden waren.
Die Arme vor der Brust verschränkt, trat Hermann neben sie.
»Ihr seht den Grundriss des neuen Kirchenhauses vor Euch.«
»Den Grundriss«, wiederholte sie murmelnd, auch wenn sie nicht wusste, was das war.
»Wir lehnen uns an das Vorgehen des Römers Vitruv an«, erklärte er ihr. »Vitruv fertigte vor Baubeginn Zeichnungen an.
Den Grundriss, den Schnitt durch das Gebäude und die
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