Die Herrin der Kathedrale
Arbeitstisch ist bereits bei Zimmermeister Jan in Auftrag gegeben.« »Ich danke Euch für Eurer Vertrauen«, sagte Uta und schenkte Hermann ein freudiges Lächeln.
10. FLUCHT UND NÄHE
Mit der Zungenspitze an der Oberlippe ritzte Uta mit dem Blindrillenstift eine dünne Linie in das Pergament.
Sie war froh, die Übungen auf den Wachstafeln bereits hinter sich gelassen zu haben und seit dem Osterfest auf Vorzeichnungen verzichten zu können. Die Verwendung des metallenen Stiftes ermöglichte es ihr, bei fehlerhaften Linienzügen einfach eine neue Blindrille zu setzen, denn die Rille war farblos. Abschließend schob sie die Reißschiene beiseite und kontrollierte die kaum sichtbare Linie, um gleich darauf einen Rohrfederkiel aus dem Holzkästchen neben dem Reißbrett zur Hand zu nehmen. Konzentriert fuhr sie die Blindrille mit schwarzer Farbe nach.
»Meister Tassilo?«, fragte Uta mit einem kritischen Blick auf das Pergament, das nun die Ansicht der oberen nördlichen Langhauswand mit sämtlichen Hauptlinien zeigte. »Wie bekommt Ihr die Bögen für die Fensterformen so gleichmäßig rund?«
Der Werkmeister ließ seinen Stift sinken und trat hinter Uta an den zweiten Schreibtisch, den er vor sieben Mondumläufen hatte aufstellen lassen. »Dafür benötigt Ihr einen Nagel und einen Faden«, erklärte er und holte beides aus seinem Holzkästchen herbei. »Das eine Ende des Fadens wickelt Ihr fest um den Nagel und steckt diesen entsprechend dem Durchmesser Eures Kreises, der den Rundbogen formen soll, fest durch das Pergament in das Reißbrett.«
Uta folgte seiner Anweisung.
»Dem Holz machen die Löcher nichts aus«, fuhr Tassilo fort.
»Nun wickelt das andere Ende des Fadens so um Euren Stift, dass er genauso lang ist, wie der Rundbogen im Langhaus sein soll. Ihr kennt dessen Spannweite?«
»Sie beträgt sechseinhalb Fuß«, entgegnete Uta und rechnete.
»Dies entspricht einer Scheitelhöhe von dreieinviertel Fuß. Bei einem Maßstab von 1:10 …«, dabei deutete sie mit dem Kinn auf den rechten unteren Rand des Pergamentes vor sich, »macht das ein Drittel Fuß.« Uta maß ein Drittel Fuß vom Nagel aus ab und hielt diesen anschließend, als der Faden zwischen Nagel und Stift die gewünschte Länge hatte, mit der linken Hand fest, damit er nicht aus dem Pergament sprang.
»Genau so.« Tassilo nickte und beugte sich zu ihr hinunter.
»Nur wenn der Faden ganz straff gespannt ist, Gräfin, erhaltet Ihr einen wirklich runden Kreis und kein Ei.«
»Es funktioniert Meister«, meinte Uta begeistert. »Mein Rundbogen erhält seine Form!«
»Dann überlegt Euch als Nächstes, welche Mörteldicke und wie viele Keilsteine zu diesem Bogen passen.« Tassilo deutete auf den Scheitel des Rundbogens.
»Keilsteine?«
»Das sind keilförmig angeschrägte Steine, die die Rundung formen«, erläuterte der Meister.
»Und wann werden die Fenster gemauert?«
»In der Mitte des zweiten Bauabschnitts, wenn wir die oberen Langhauswände hochziehen«, antwortete Tassilo und bemerkte gleichzeitig, dass Bischof Hildeward die Arbeitskammer betreten hatte und ihm nun die Hand zum Ringkuss reichte. In die Zeichnung des Rundbogens vertieft, musste er dessen Klopfen überhört haben. »Exzellenz, stets zu Diensten.« Tassilo verbeugte sich und deutete den Ringkuss an. Nachdem er Uta flüchtig zugenickt hatte, meinte der Bischof:
»Ich wollte mich erkundigen, wie Ihr auf der Baustelle vorankommt, Meister.« Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur mit dem letzten Drittel der oberen Wände des Ostchores, sondern auch mit der Decke der Krypta zu langsam vorangeht.«
»Exzellenz, es gibt keine Probleme.« Tassilo schaute den Bischof verwundert an. »Wir liegen gut in der Zeit. Alles verläuft nach Plan. Wir sind bereits dabei, die Zeichnungen für die oberen Wände des Langhauses zu erstellen.«
»Mit wunderschönen zu Halbkreisen geformten Fenstern«, fügte Uta hinzu und hob ihr Pergament an.
Doch Hildeward warf keinen Blick darauf. »Ich hatte Euch doch gebeten, jede Entscheidung mit mir abzustimmen!«
»Exzellenz, es gab diesbezüglich keine Entscheidungen für Euch zu fällen«, versicherte ihm Tassilo.
»Ist denn die Entscheidung für runde Fenster am Langhaus keine Entscheidung?«, fragte Hildeward missbilligend und darum bemüht, die Burgherrin zu ignorieren. Anscheinend war noch immer keiner der beiden Naumburger Grafen dazu imstande gewesen, dieses Weib von Aufgaben, die der Allmächtige allein dem männlichen Geschlecht
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